3. Ergebnisverdächtige Ebenen

Anhand der bisherigen Auswertungen stelle ich Ihnen einige Ebenen vor, die sich in Ergebnisse weiter entwickeln könnten. Für die heutige Vorstellung habe ich die folgenden Ergebnisse aus verschiedenen Teilen meiner bisherigen Untersuchung zusammengestellt. Sie wirken teilweise zusammengewürfelt. Aber diese bunte Mischung entspricht dem Stand meiner Studie, die ja erst seit einem halben Jahr läuft.

 

1. Körperliche Bewegung

Einige Unterteilungen zeigen verschiedene Aspekte der körperlichen Bewegung. Diese Aspekte sind als Idealtypen zu verstehen. Die Bilder und die darauf Abgebildeten sind der Auslöser und Anlass, um bestimmte Merkmale der körperlichen Bewegung beim Singen in der Kirche zu beschreiben. Damit wird der Geltungscharakter eingeklammert. Es wird nicht behauptet, dass die Abgebildeten genau das Empfinden oder Ausdrücken wollen, was ich interpretiere.

 

a) Beim kirchlichen Singen gibt es eine Körperhaltung die üblich ist. Ich habe diese als »Kirchenhaltung« bezeich­net. Sie zeichnet sich durch einen leicht gebeugten Rücken und einen etwas gesenkten Blick aus. Es sind kaum Bewe­gun­gen zu sehen, die Arme liegen im Schoß. Bewegt werden nur der Kopf und ein bisschen die Arme.

 

b) Diese Kirchenhaltung kann wahrscheinlich nur durch einen aktiven Rhythmus aufgebrochen werden, sodass sich die Menschen deutlich erkennbar bewegen. Einige Abstufungen sind zu erkennen:

- So erfreut der Rhythmus die Hörenden. Doch überwindet der Rhythmus, z.B. beim Orgelspiel die Kirchenhaltung kaum.

- Ein rhythmisches Lied alleine hat nur ein begrenztes Potenzial, die Kirchenhaltung zu überwinden.

- Am deutlichsten wird die Überwindung der Kirchenhaltung und die körperliche Aktivität sichtbar, wenn die Singenden einen Rhythmus klatschen.

c) Wenn die Singenden stehen, wird damit auch die körperliche Bewegung gefördert. Allerdings reicht das Stehen an sich noch nicht aus, sondern die Musik muss zur Bewegung anleiten. Also, z.B. ein dynamischer Rhythmus oder ein tänzerisches Lied muss zum Stehen hinzutreten.

d) Wenn auswendig gesungen wird, ist ein stärkerer Kontakt zu den anderen Singenden und zur Singleitung möglich. Die Gemeinschaft wird kommunikativer hergestellt: Singender Lied Nachbar Singleiterin treten in den Dialog ein.

e) Beim meditativen Singen ist eine Bewegung nicht erwünscht. Ein ruhiges Wiegen des Körpers kann die Meditation unterstützen. Viele Taizégesänge nehmen diese Form des Singens auf.

f) Singen könnte Menschen so anregen, dass sie sich spontan körperlich bewegen, z.B. Aufstehen, wenn das Lied mitreißend ist oder die Arme heben, wenn es ein Lobpreislied ist etc.

g) Ein vertrautes Lied führt eher zu körperlicher Bewegung, denn die Konzentration auf Text und Melodie, die ungewohnt oder neu sind, reduzieren körperliche Aktivität. Sobald man vorhat nicht mitzusingen, entfällt diese Einschränkung, denn dann stellt man sich auf das Hören ein und dieses regt auch zur Bewegung an. Verstärkt wird diese Anregung durch einen starken Rhythmus mit einem Schlagzeug. Dann wird man nicht nur animiert, sondern es gibt einen Punkt, da kann man sich dem Bewegungsimpuls kaum noch widersetzen.

Bei einem kirchlichen Setting ist diese starke, fast manipulative Wirkung der Musik eher selten.

h) Sitzen behindert, im Gegensatz zum Stehen (vgl. c), äußere Bewegung und fördert die Konzentration auf das Innere.

 

2. Kirchensound als klangliches Pendant zur Kirchenhaltung

Der übliche Kirchensound ist durch Singen geprägt, durch Orgel, Posaunenchor, vielleicht auch mal Streicher oder Orffinstrumente und in moderner Version durch eine Band, dann unbedingt mit Saxofon. Diese Instrumente spielen in »freier« Musik, aber besonders auch als Begleitung des Gesanges.

Seltener ist der a cappella-Gesang der Gemeinde.

Der Rhythmus ist die Komponente des Sounds, die eine neue Musikwahrnehmung initiieren kann. Da oben bei dem Punkt 2. Körperliche Bewegung schon die drei unterschiedlichen Grade der rhythmischen Aktivierung angesprochen wurden, wiederhole ich sie hier nur kurz:

a) rhythmisiertes Orgelspiel, das also populäre Musikstile aufnimmt.

b) ein rhythmisches Lied. Wahrscheinlich reichen dafür einige Synkopen nicht aus, sondern insgesamt braucht es einen einprägsamen Rhythmus.

c) der Kirchensound wird dann überwunden, wenn die Kirchenhaltung aufgebrochen wird. Dies gelingt durch einen aktiven Rhythmus, der an die Bank geklopft oder mit den Händen geklatscht wird.

 

3. Ein bekanntes Lied

Ein bekanntes Lied ruft nicht nur mehr körperliche Bewegung hervor (siehe 1 g), sondern es macht Spaß es zu singen. Im erneuten Singen erklingen auch Momente des alten Singens, die unbewusst in uns schlummern.

a) ein Lied ist bekannt, weil es häufig gesungen wurde. Zwei Richtungen ergeben sich daraus. Einmal kann es Langeweile hervorrufen, weil es klingt, wie es immer geklungen hat.

Zum anderen wird ein Lied immer wieder gern gesungen. Es ist dann nicht nur ein Lied, sondern kann zum emotionalen Ausdruck der Singenden werden. Sowohl diese gern gesungenen Lieder als auch die als langweilig empfundenen eignen sich gut für Singexperimente. Dann werden diese alten und bekannten Lieder wieder zu neuen spannenden.

b) Ein Lied ist bekannt, weil es in einer bestimmten Lebenssituation kennengelernt wurde und sich mit dieser Situation emotional verbunden hat.

 

4. Der Charakter oder die Emotion eines Liedes

Ob der Begriff Charakter für ein gesungenes Lied treffend ist, überlege ich noch. Mit Charakter bezeichnet man personenbezogene Eigenschaften und Eigenheiten. In der Regel werden diese Merkmale dem Menschen von außen zu geschrieben. Über den Charakter eines Menschen kann man sich verständigen und doch erleben Menschen den Charakter eines andere verschieden. Mit der Zuschreibung eines Charakters stellt man eine gewisse Unabhängigkeit und einen Eigenwert des Anderes fest. Diese Parameter passen auch auf ein Lied und zeigen, dass es ein Lied immer nur in Beziehung zu uns, also einer Person geben kann. Ich halte mich also bei dem Begriff Charakter, falls ich bei ihm bleibe, an die altgriechische Weise, dort bedeutet es ja „Prägestempel“. Doch dynamisiere ich diese Idee, denn der Prägestempel, wie ich ihn verstehe, ist weder eindeutig noch zeitlich unbegrenzt. Abgrenzen werde ich mich von dem Begriff Charakter bei Aristoteles und dann der abendländischen Tradition, z.B. Augustinus oder Thomas von Aquin, die darin Tugenden zum moralischen Verhalten sehen.

 

Doch zurück zum Singen: ein gesungenes Lied ist eine emotionale Äußerung innerhalb einer bestimmten Kultur. Jedes Lied hat das Potenzial Emotionen anzuregen, die dann charakteristisch für dieses Lied sind. Damit soll keine bestimmte Emotion mit einem Lied verbunden werden, weil die Lebenssituation des Singenden und das Setting des Singens mitwirken, aber trotzdem ist das Erleben und die Emotion nicht vollkommen individuell. Eine absolute Individualität würde ja bedeuten, dass sich Menschen nicht über ihre Erlebnisse und Emotionen austauschen könnten. Innerhalb einer »Kultur« gibt es ein grundlegendes Einverständnis über die Bedeutung kultureller Ereignisse. Das hat nicht nur Schulze in seiner Erlebnisgesellschaft bestätigt, sondern ist auch ein wichtiges Merkmal des Bourdieu'schen Habitus.

Deshalb kann man von dem Charakter eines Liedes sprechen.

These: Wenn der Charakter eines Liedes mit der Situation – der Stimmung der Singenden, der Tageszeit, dem Ort, der gesellschaftlichen Lage, dem Anlass des Singens etc. – zusammentrifft und in der Ausführung der Charakter unterstützt wird, kommt es zur „Passung“. Das Lied kann dafür die Situation beeinflussen (das kann auch der Faktor sein, der erst zur Passung führt) und verändern, kann Gemeinschaft erleben lassen, kann zum religiösen Ausdruck der Gemeinde werden und zur Freude der Menschen und Ehre Gottes erklingen.

Hinweis: Es ist gerade nicht (nur) der Text gemeint.

 

5. Emotionale Erinnerung, ausgelöst durch den Sound eines Liedes

Dazu habe ich noch kaum Belege, aber bekannt ist dieses Phänomen. Mit einer bestimmten Lebenssituation verbindet sich ein Lied. Dieses Lied ist nicht nur durch den Text präsent, sondern auch durch die Musik und den Sound. Die Erinnerung kann somit auch durch den Sound bei einem anderen Lied wachgerufen werden.

 

6. Vortrag vs. gemeinsames Singen

 

7. Der Kirchenmusiker leitet das Singen

In den bisherigen Videos fällt auf, dass das angeleitete Singen sehr positiv aufgenommen wird.

 

8. Musik will die Aufmerksamkeit binden

Das Singen zeichnet sich durch eine doppelte Bewegung aus: Ausdruck und Empfangen. Dies ist so eindrücklich, dass die Aufmerksamkeit ganz auf das Lied ausgerichtet ist. Hier sind Abstufungen zu erkennen: das Lied braucht Aufmerksamkeit, weil es unbekannt ist. Dann ist es eine Herausforderung, Text und Melodie zusammen erklingen zu lassen. Das Lied ist bekannt und weckt deshalb Erinnerungen in uns. Oder auch, um noch einen dritten Fall zu benennen: Das Lied führt uns in einen Flow.

 

9. Klang vs. Bild

Diese Beobachtung hat mit meiner Forschungsmethodik zu tun: die Videos zeichnen Bilder auf, die aber immer nur ein Ausschnitt der Kirche sind, während das Klangraum, der durch die Mikrofone aufgenommen wird, größer ist als der Bildausschnitt. Deshalb ist zu fragen, ob Bild und Ton übereinstimmen. Ich kann noch nicht abschätzen, welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind.

 

10. Selbstbezüglichkeit des Singens

Hypothese: Das Singen von Kirchenliedern, die von einer »unsichtbaren« Orgel begleitet werden, ist selbstbezüglich. Es führt Menschen zu sich selbst. Anders ist das angeleitete Singen, hier entsteht eine kommunikative Situation zwischen den Anwesenden, dem Lied und dem Singleiter.

 

11. Singen und Gemeinschaftserlebnis

Ein häufig beschriebenes Erleben beim Singen ist das Gemeinschaftsgefühl. So fasziniert das Singen auch Menschen, die selten im Gottesdienst sind, denn beim Singen gehören sie dazu. Das war bei meiner Diss so im Typ „Freizeitgottesdienstbesucher“, die alle in den Kirchenmusiktyp „Singen als Gemeinschaftserlebnis“ gehören.

Über die Form und das Erleben der Gemeinschaft denke ich noch nach. Mir fällt auf, dass die Gemeinschaft sehr zentral in den Beschreibungen von Musikwirkungen ist, allerdings dann die Erzählungen genauere Punkte für sich selbst beschreiben. Z.B. erzählt eine Frau in HH, dass man die Gemeinschaft mit dem Nachbarn spürt. Aber eigentlich kommt es auf die eigene Stimmung an, die sich ändert, wenn das Lied melancholisch wird, wie beim Lied „Der Tag verebbt“.

Was bedeutet Gemeinschaft und wie entsteht Gemeinschaft? Einige Gedanken dazu: Gemeinschaft deduktiv (objektiv), z.B. Abendmahlsrunde, sie muss nicht von dem Einzelnen gespürt werden. Gemeinschaft induktiv (subjektiv), man fühlt Zugehörigkeit, das Gegenüber muss dies nicht so empfinden. Gemeinschaft bei meditativer Musik ist eher individuell, bei ekstatischer durch gleich Körperbewegungen, eher sozial.

 

12. Orgel und Gemeindegesang

Die Orgel ist das übliche Instrument, um den Gemeindegesang anzuleiten und zu begleiten. Deshalb könnte ich an das gesammelte Material die Frage stellen, ob dies sich empirisch nachweisen lässt. In vielen Gottesdiensten erlebt man die Orgel als Begleitung des Singen von Chorälen. In der Paderborner Studie »Singen im Gottesdienst« wurde die Orgel als Hauptbegleitung benannt, auch wenn es in der jüngeren Generation andere Präferenzen gab.

 

13. Rhythmus vs. Klang

 

Zwei Bereiche, in denen es Ergebnisse geben wird, will ich noch erwähnen: einmal das praktische Singen. Das Singen mit der Gemeinde ist m.E. ein wesentlicher Bereich der Kirchenmusik, es wird aber im Studium nur sehr wenig gelehrt. Deshalb entdecke ich bei der teilnehmenden Beobachtungen und der Videoanalyse viele Anregungen für die Kirchenmusikerinnen.

Der zweite Bereich ist das Kirchenleitende Handeln. Immer wieder tauchen Hinweise auf, wie das Singen, wie Lieder und Gesang von Gottesdienstbesucherinnen erlebt und genutzt werden. Daraus sind Erkenntnisse für die Kirchenleitungen, z.B. in Fragen eines Neuen Gesangbuches, abzuleiten.