Einführung in des Oratorium »Paulus« op. 36

Felix Mendelssohn Bartholdy

von Dr. Jochen Kaiser

   

Paulus oder die Erfahrung »teurer Gnade«

Das Oratorium »Paulus«, ein Jugendwerk Mendelssohns, steht in der großen Tradition der spätbarocken Oratorien, also in der Nachfolge von Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach.

 

Mendelssohn war Enkel des bedeutenden Aufklärers Moses Mendelssohn und lebte mit seiner Familie – Mutter Lea, Vater Abraham und Geschwistern Paul, Rebecca und der heiß geliebten Fanny – als integrierter Jude in Berlin. Auf einer dreijährigen Reise (1829-1832) durch Europa (einer »grand tour«, die Abraham für seinen Sohn wollte, damit dieser ein europäischer Gentleman wird) hielt sich Felix längere Zeit in England auf. Dort lernte er die lebendige Tradition der Werke von Händel kennen. Von London aus fuhr er vor der Karwoche 1829 nach Berlin und führte dort die Matthäuspassion von Bach auf.

 

Eine kleine Episode zwischen London und Berlin kann eine Ahnung vermitteln, wie die Gemütslage von Felix war. Immer wieder konzertierte er in London und wurde als Genie gefeiert. Diese Konzerte wurden in den englischen Zeitungen angekündigt. Sein Vater, Abraham, nahm mit Verwunderung wahr, dass Felix in den englischen Zeitungen nur mit »Mendelssohn« genannt wurde und somit der Beiname »Bartholdy«, der den Übertritt zum christlichen Glauben anzeigte, fehlte. Am 8. Juli 1829 schrieb ihm sein Vater: »einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig als einen jüdischen Confucius.« Während seine Schwester Fanny am selben Tag an Felix schrieb: »Ich kenne u. billige Deine Absicht, diesen Namen, den wir alle nicht lieben, einst wieder abzulegen.« Doch Felix entsprach dem Wunsch seines Vaters und zeichnete immer mit »Mendelssohn Bartholdy«. Ohne diese Begebenheit eindeutig interpretieren zu wollen, gehe ich davon aus, dass es nicht nur um eine geschmackliche Frage des Beinamens »Bartholdy« ging, sondern dass darin auch ein Blick auf die zwiespältige Gefühlslage – jüdische Abstammung und Verwurzelung, aber christlicher Glaube – von Felix gegeben ist.

 

Paulus und Mendelssohn

Mendelssohn hatte wohl die Idee, eine Trilogie von Oratorien zu komponieren. Er wollte die großen Gestalten der jüdisch-christlichen Tradition in Musik dar­stellen: »Elias« – der bedeutende Prophet, der den Jahwe-Glauben in Israel bewahrte, »Christus« – Gottes Sohn, der Messias und Erfüller der Sehnsucht des Gottesvolkes (dies Werk blieb unvollendet) und »Paulus« – der jüdische Pharisäer, der das Christentum zu den Heiden brachte und im ganzen römischen Weltreich verkündigte.

Als Erstes vertonte er die Geschichte des Paulus. Die Arbeiten dazu begannen im Jahr 1832/33.

 

Exkurs: Die Juden in den christlichen Gesellschaften Europas

In diesen Jahren überdachten einige Staaten ihre Beziehungen zu den jüdischen Ein­wohnern. So wurde z. B. in London der »Jewish Civil Disabilities Act« im Unterhaus verabschiedet, der den englischen Juden das Wahlrecht und das Recht auf öffentliche Ämter zusprach. Felix war bei dieser Sitzung des Unterhauses anwesend. Ganz anders war es in Preußen, wo Friedrich Wilhelm III. in den Posener Beschlüs­sen den polni­schen Juden in der preußischen Provinz Posen neue Restriktionen auf­er­legte. Die Mendelssohns waren vor einige Zeit, bei Geheimhaltung vor der Familie, zum christ­lichen Glauben übergetreten (die Kinder waren schon 1816 getauft wor­den, aber Abraham und Lea vollzogen die Konvertierung am 4. Oktober 1822 in Frankfurt).

 

Im Sommer 1832 vereinbarten der bedeutende Musiktheoretiker Adolf Bernhard Marx und Felix Mendelssohn Bartholdy, in einem Tauschgeschäft zwei Oratorien textlich zu entwerfen. Marx sollte »Paulus« und Mendelssohn »Moses« bearbeiten. Für das Komponieren wollten sie dann wechseln. Mendels­sohn machte sich mit Enthusiasmus an die Arbeit und hatte als Inspirations­quelle die Passionen Bachs und Händels »Israel in Ägypten«. Doch an der Frage ob Choräle in dieses Oratorium aufgenommen werden sollten, zerbrach die Zusammenarbeit. Marx lehnte dies kategorisch ab, da die Urchristen keine Choräle kannten. Für die weitere Entwicklung des Librettos waren der Schauspieler Eduard Devrient, der Orientalist Julius Fürst und der Pfarrer Julius Schubring hilfreich, auch wenn Mendelssohn sie nur beratend hinzuzog.

Die Uraufführung dieses Oratoriums fand in Düsseldorf am 22. Mai 1836 (Pfingsten) statt. Im Orchester spielten 172 Musiker und der Chor bestand aus 356 Sänger/innen, unter denen auch seine Schwester Fanny war. Dieses Oratorium katapultierte Mendelssohn an die Spitze der damaligen europäischen Musikwelt (1837 führte er den Paulus in Birmingham auf).

 

Paulus, wie er im Oratorium Mendelssohns dargestellt wird

Die Ouverture setzt mit dem Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme« ein. Kaum hörbar beginnt das Lied in den tiefen Instrumenten. Nach dem ersten Teil der Melodie erweitert sich der Klang um die hohen Instrumente und es kommt in den langsamen, fast ätherischen Klang Bewegung. Die folgende Fuge ist in barocker Form streng durchgeführt, gewinnt aber dann – und das ist ein Markenzeichen Mendelssohns – an Dramatik durch vorgeschriebene Steigerung des Tempos. Immer wieder erklingt das markante Anfangsmotiv von »Wachet auf!«, das auch die Ouverture beschließt. Unüberhörbar wird die Botschaft Men­delssohn deutlich: Durch Bewegung des Gemütes soll das innere Gefühl fast ge­drängt werden den Rufen, »Wachet auf! Kehrt um! Tut Buße!« nachzukommen und auch wir werden in den Prozess der Verwandlung des Saulus zum Paulus einbe­zogen.

 

Exkurs: Friedrich Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts

Mendelssohns theologischer Gesprächspartner für den Paulus und besonders den Elias war der Pfarrer Julius Schubring, ein Schüler von Schleiermacher. Schleier­macher selbst war im Haus Mendelssohn bekannt, er hatte durch die Singakademie Verbindung zu Mendelssohn und hörte dessen Aufführung der Matthäuspassion. Mendelssohn bekannte sich in einem Brief an Schubring als Anhänger von Schleier­macher, dessen Predigten er in der Dreifaltigkeitskirche in Berlin hörte. Schleier­macher verortete die Religion im Gefühl des Menschen. Er meinte, dass eine eigene Pro­vinz im menschlichen Gemüt für die Religion reserviert wäre. In seinen »Reden« (1799) fasste er Religion als »Anschauen des Universums« und »Sinn/Geschmack fürs Unendliche« auf. Religion verstand er so weniger als eine von außen auf den Men­schen zukommende Verkündigung, sondern als eine innere Bewegtheit. Die Verkün­digung – oder wie bei Paulus das erschütternde Widerfahrnis – setzt ein Gefühl im Menschen frei, dass er nicht selbst sein Leben sich gegeben hat und so von Gott unbe­dingt abhängig ist. Somit konnte das gesprochene Wort zurücktreten und eine Musik die­se ästhetische Gestimmtheit, als eine Ahnung für das Unendliche – ein religiöses Ge­fühl – hervorrufen. In diesem Sinne erklingt am Anfang das Choralmotiv »Wachet auf!«. Ruhig, feierlich, religiös! Die Fuge erregt das Gemüt, sie wird schneller, lauter und mündet in den Weckruf zur Umkehr.

Dieser Choral kann als zentrales Motiv des ersten Teiles gelten, in der Ouverture und als Choral nach der Bekehrung des Paulus.

 

Anrufung Gottes und Doxologie

Nach Jesu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt sandte Gott den Heilige Geist zu Jesu Jüngern (Pfingsten). Vorher hielten sich die Jünger versteckt und hatten Angst, doch dann, als Gottes Geist sie erfüllte, erzählten sie froh von ihrem Herrn, Jesus Christus. Täglich wurde die Gemeinde größer. Den jüdischen Priestern gefiel diese Entwicklung nicht. Als Petrus und Johannes einen Kranken in aller Öffentlichkeit im Namen Jesu heilten, nahmen sie sie gefangen und drohten ihnen. Petrus aber, voll Heiligen Geistes sagte: »Es ist in keinem anderen Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin sie sollen selig werden … und man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« Die Priester bedrohten sie noch einmal und entließen sie. In der Gemeinde beteten sie zusammen u. a. die Worte, die im Eingangschor gesungen werden. »Herr, der du bist der Gott … gib deinen Knechten mit aller Freudigkeit zu reden dein Wort.« (Apg 4,24+29) Darauf zeigt Mendelssohn, was für ihn der Kern des Evangeliums ist – der Lobgesang zu Gottes Ehren, den die Engel bei Jesu Geburt sangen: »Allein Gott in der Höh sei Ehr…«.

 

Szene I: Stephanus

In der ersten Szene tritt Stephanus als Hauptperson auf. Er war ein griechischer Christ und von den Aposteln eingesetzt, um karitativ tätig zu sein. Doch er half nicht nur Witwen, sondern er erzählte auch von seinem Glauben. Dies tat er so geisterfüllt, dass die Priester ihn vor den Hohen Rat zerrten, mit falschen Zeugen anklagten und schließlich steinigen ließen. Nur am Rande taucht Saulus auf, denn bei ihm legen sie die Kleider ab, als Stephanus gesteinigt wurde. Saulus hatte Wohlgefallen an diesem Tod. Damit wird die Kluft zwischen Saulus und den Christen gleich bei der ersten Erwähnung tief gegraben. Ein lyrischer Chor beendet diesen Teil – ein hoffnungsvoller Gesang, dass selbst wenn der Leib stirbt, wir in Gottes Hand bleiben.

 

Szene II: Saulus Bekehrung

Saulus tritt aktiv auf und zeigt, wie er für den Gott Israels, den Herrn Zebaoth kämpft. Sein Ziel ist es, die neue Sekte, die Christen auszurotten. Dies tut er nicht, weil er ein böser Mensch ist. Er ist eifrig für Gott, ein strenger Pharisäer.

 

Exkurs: Saulus – Sohn frommer Juden und römischer Bürger

Saulus wurde in Tarsos geboren als Sohn frommer Juden, die in der Diaspora lebten. Zu­gleich erbt er von seinem Vater das römische Bürgerrecht. Er wurde am achten Tag be­schnitten, war aus dem Stamm Benjamin und wurde zum Pharisäer ausgebildet. Er konnte sicher aramäisch und in seinen Briefen lernt man ihn als gewandten Schrift­künst­ler kennen. Er hatte die Tora (Gesetz Moses) studiert und den Beruf des Zelt­machers erlernt. Ungewöhnlich für einen Juden seiner Zeit war es, dass er unver­hei­ra­tet blieb. Er selbst sagt von sich, dass er ein Eiferer (griech. Zelot) war, stärker glaubte als viele im Judentum. Vielleicht ein Ergebnis seines Lebens in der Diaspora?!

 

Die Jesus-Nachfolger flohen vor Saulus, der ihnen aber nachsetzte und sich auf eine Verfolgungsreise, weit weg von Jerusalem nach Damaskus machte. Kurz vor Damaskus umleuchtete Saulus ein helles Licht vom Himmel, so strahlend, dass er auf die Erde stürzte. Eine Stimme aus dem Himmel sprach zu ihm.

Die Tradition verlangte, dass die Stimme Jesu als Bass erklang, so war es auch in der Johannes- und Matthäuspassion von Bach. Mendelssohn wagte eine neue Form, bei der er schon vorher befürchtete, dass die Theologen ihn heftig kri­ti­sie­ren würden. Die Stimme Jesu übernahm ein Frauenchor. Eine mehrfache Provo­ka­tion: (1) ungewöhnlich, dass Frauen die Stimme Jesu übernehmen, (2) unge­wöhn­lich, dass mehrere Stimmen erklingen, obwohl es im Glaubensbekenntnis heißt: »Wir glauben all an einen Gott«. Schließlich (3) ändert Mendelssohn die Rede Jesu, wie sie in der Bibel überliefert ist, indem er »von Nazareth« einfügt. Vorgeworfen wurde ihm nur (3) und dem konnte er leicht begegnen, denn im Selbstzeugnis seiner Bekehrung nimmt Paulus im 22. Kapitel der Apostelge­schichte das »aus Nazareth« auf. Vielleicht wurden die Kritiker durch die Verto­nung überzeugt. Wilde Tremolos in den Streichern lassen uns Hörende mit Saulus beben vor Angst. Doch dann erklingen hohe Bläser, die einen entrückten Klang zaubern und der Frauenchor singt wie aus einer anderen Welt.

 

Exkurs: Jesus von Nazareth – Messias

Von der Existenz Jesu, wie er gelebt und gehandelt hatte und wie er gestorben war, wird Saulus gehört haben. Aber damit wurde nur eine weitere Geschichte eines wandernden Lehrers erzählt, der mit allerlei Jüngern den Boden des traditionellen Judentums verließ. Doch in dem Damaskuserlebnis wandelt sich sein Blick auf diesen Jesus von Nazareth.

 

Als Saulus sich erhebt ist er blind und wird von seinen Begleitern nach Damaskus geführt.

 

Exkurs: Saulus – blind wird er wirklich sehend – Paulus

Sprichwörtlich ist die Wendung geworden: Vom Saulus zum Paulus und meint damit, dass ein Mensch seine Meinung ändert, und zwar nicht nur marginal, sondern fundamental. Einige Beobachtungen sollen diese Verwandlung bei Saulus beschreiben, wie sie in der Bibel stehen und wie Mendelssohn sie interpretierte.

Am Anfang steht ein erschütterndes Erlebnis. Saulus ist vollkommen überzeugt, dass er den »wahren« Glauben verteidigt. Er wird wie vom Blitz getroffen. Also nicht wie Schleiermacher meinte, in seinem inneren Gemüt durch Anschauen des Universums zu einer neuen Einsicht geführt, sondern von außen, völlig unabhängig von ihm selbst, trifft ihn ein »umwerfendes« Widerfahrnis. Im Lichte dieser Christus-Erscheinung, die ihn äußerlich blind werden lässt, stehen ihm seine Verfehlungen, sein Unglaube und seine Sünden vor Augen. Drei Tage fastet er und betet, so schreibt es die Apostelgeschichte. Mendelssohn komponiert eine emotionale Gebetsarie. Den Text hat er selbst gewählt. Er stammt aus dem 51. Psalm einem großen Bußpsalm der Hebräischen Bibel. Saulus/Paulus erfindet nicht, vielleicht vom Heiligen Geist inspiriert, ein neues Gebet, sondern er hält sich an die von Kindheit an vertrauten Worte. Das Spannende ist für mich, dass sich damit äußerlich nichts geändert hat. Schon in seiner ersten eifrigen Zornesarie, als er für Gott, den Herrn Zebaoth gegen die Christen wetterte, wollte er den Ungläubigen Gottes Weg weisen. Der Unterschied für mich ist, dass Saulus einem Gesetz folgte, das durch menschliche Zusätze und Interpretationen einen klaren Weg des Heiles vorschrieb. Paulus dagegen sah jetzt dieses gleiche Gesetz im strahlenden Lichte von Gottes Selbst-Offenbarung. Nicht mehr er, Saulus, wusste, wo der richtige Weg zu Gott entlang führte, sondern Paulus ließ sich von Gott in Anspruch nehmen: »Herr, tue meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.«

Der Jünger Ananias bekam den Auftrag zu Paulus zu gehen, ihn zu segnen und auf den Weg in die Nachfolge Christi zu berufen. Paulus ist bei Mendelssohn inzwischen bei einem Dankgebet über seine Rettung angekommen. Das wird vom Chor mit der Vision einer Welt ohne Tränen, also dem Reich Gottes, kommentiert. Ananias kommt zu Paulus, er nennt ihn Bruder und segnet ihn. Da fällt es wie Schuppen von seinen Augen, er kann wieder sehen und lässt sich taufen. Sofort beginnt er zu predigen und erzählt von seinem Christuserlebnis: »O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege.«

In der Bibel klingt diese Passage recht nüchtern. Ein Jünger kommt zu Paulus, wendet sich ihm in Freundlichkeit zu, obwohl Saulus noch vor wenigen Tagen eben diese Jünger verfolgte und ins Gefängnis werfen wollte. Die Freundlichkeit der Feindesliebe rührt uns menschlich an, trifft aber den Kern des Geschehens nicht wirklich. Mendelssohn vertont diese Passage sehr aufschlussreich. Zu dieser menschlichen Zuwendung muss Gottes Handeln kommen, ansonsten bleibt es nur eine nette menschliche Geste. In einer instrumentalen Überleitung wird dramatisch das göttliche Handeln ausgedrückt, das dazu führt, dass es Paulus »wie Schuppen von seinen Augen« fällt.

Damit ist der Prozess der Verwandlung des Saulus zum Paulus abgeschlossen und mündet in die Taufe.

Hinter diesem Wortspiel »vom Saulus zum Paulus« steht also ein großer Prozess: (1) im Lichte von Gottes Selbstoffenbarung wird uns unsere Unzulänglichkeit (in bibli­scher Sprache: Sünde, Luther: incurvatio in se ipsum – in sich selbst verkrümmt/ge­fangen sein) bewusst, das setzt (2) einen inneren Prozess der Einkehr, der Buße und Hingabe an Gott in Gang und führt (3) zu der Erfahrung des gnädigen Gottes, der Mensch geworden ist und sich selbst für uns geopfert hat.

 

Szene III – Mission des Paulus

Ein fünfstimmiger Chor eröffnet den zweiten Teil des Oratoriums. Dann werden Paulus und Barnabas zur Mission ausgesandt. Mendelssohn malt ein romantisches Bild dieser Reise. In lyrischen Kantilenen machen sich die Friedensboten auf den Weg, ein Loblied von der Gnade des Herrn auf den Lippen. Doch die Realität sieht anders aus. Die Juden neiden den christlichen Predigern ihren Erfolg und betonen die Einzigkeit ihres Gottes. Sie erinnern sich, dass Paulus und Barnabas von dem in Jerusalem gekreuzigten Wanderpre­diger Jesus reden. Mendelssohn flicht an dieser Stelle einen wunderbaren figurierten Choral ein, der um Erleuchtung durch Christus bittet. Als Folge der Ablehnung der Christusverkündigung durch die Juden wenden sich Paulus und Barnabas den Heiden zu. In Lystra begegnen sie einem lahmen Mann und heilen ihn. Sofort glauben einige Umstehende, dass die Götter vom Himmel herab gekommen sind. Sie singen ein Loblied auf die Götter-Epiphanie, die Priester bringen Opfertiere und das Volk betet sie an. Mendelssohn komponiert eine eindringliche Predigt, die in einen mehrstimmigen Sologesang führt, zu dem die Soprane das Bekenntnis des Glaubens an den einen Gott intonieren, auf das Motiv des Glaubensliedes von Martin Luther.

 

Szene IV – Verfolgung und Abschied

Das Volk, Juden und Griechen, erregten sich gegen Paulus und verfolgten ihn. Aber Gott, der Herr stand ihm bei und bewahrte ihn. Die wütende Menge wollte Paulus steinigen und stimmte den Ruf: »Steinige ihn!« an, mit dem gleichen mu­sikalischen Motiv, das schon bei der Steinigung des Stephanus am Anfang des Oratoriums erklang. So wird der Verfolger zum Verfolgten. In der Apostel­ge­schichte gibt es noch viele weitere Episoden auf den Missionsreisen des Paulus: Paulus wird in Lystra tatsächlich gesteinigt und überlebt nur durch ein Wunder. Paulus und sein Mitarbeiter Silas sind im Gefängnis in Philippi, sie sind gebunden und singen doch Loblieder auf ihren Gott, der die Mauern des Gefängnisses aufbricht. Paulus predigt auf deM Areopag in Athen von dem »unbekannten« Gott.

Dann nimmt Paulus Abschied von der Gemeinde in Ephesus, das erzählt wieder Mendelssohns Oratorium. Er will nach Jerusalem reisen und weiß, dass er dort gefangen genommen wird. Die flehendliche Bitte der Gemeinde: »Schone doch deiner selbst«, findet bei Paulus kein Gehör, denn er sieht sich von Gott auf diesem Weg geführt.

Der Schlusschor nimmt Verse des 103. Psalms auf: »Lobe den Herrn, meine Seele und was in mir ist, seinen heiligen Namen!«

 

Paulus ein Wendehals?!

Die Zeit vom Sommer 1989 bis zum Oktober 1990 war für uns DDR-Bürger eine Zeit des Umbruchs, die so genannte »Wende«. Die DDR wurde »aufgelöst« und in die BRD integriert. Diese formale Beschreibung wird dem Geschehen nicht gerecht, denn ein­her ging damit die Negierung viele wichtiger Lebensgrundlagen der Menschen in der DDR. Das Geld wurde abgeschafft, viele Berufe infrage gestellt und Arbeitslosig­keit hielt Einzug. Aber auch das soziale Kapital (die gegenseitige Wertschätzung und das aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse aufeinander Angewiesen-Sein) sowie das kulturelle Kapital (welche Lieder singen wir, wie gestalten wir unsere Freizeit – besonders schwerwiegend das inkorporierte kulturelle Kapital) wurde grundlegend erschüttert. Es war also notwendig, dass jeder sein eigenes Leben neu ausrichtete. Diese »Wende« bedeutete auch, dass viel Unrecht aufgedeckt und angeprangert wurde. So wurden viele IM’s ent-deckt, die in der Folge von Verfolgern zu Verfolgten wurden. Es wurde der Begriff »Wendehals«, als Bezeichnung für Men­schen geprägt, die vorher treu an der SED hingen und nun genauso treu der neuen Macht folgten. Einerseits könnte es sein, dass diese Menschen auch vorher nur ihrer eigenen Unfähigkeit zum Widerstand folgten und deshalb eine innere Befreiung spüren konnten. Anderseits halte ich aber auch eine ehrliche Einsicht in fehlerhaftes Verhalten bei Menschen für möglich, die dann zu einem neuen Verhalten führt.

Doch diese Beschreibungen treffen nicht das Erlebnis des Paulus! Seine Motive waren nicht davon geprägt, weiterhin ein möglichst einfaches Leben zu haben. Er war als Pharisäer und Christenverfolger ein Überzeugungstäter! Er war dabei ein hartgesot­tener Geselle, denn die Predigt des Stephanus hinterließ bei ihm keine Spuren. Es war eine Predigt, die das Evangelium verkündigte und mit dem Tod endete. Aber für Saulus blieben es leere Worte ohne Wirkung. Erst die Offenbarung des Auferstan­denen führte ihm seine Schuld vor Augen. Es war nicht sein Verdienst und auch nicht sein kalkulierendes Nachdenken, sondern ein Ereignis, das von außen ihn ergriff und zu Boden warf. Im Lichte dieser Erkenntnis konnte er Buße tun und wurde so, durch Gottes Kraft und Wirken verwandelt – vom Christenverfolger zum Apostel, vom strengen Verfechter des mosaischen Gesetzes zum Verkündiger der Gnade Gottes im Evangelium des Kreuzes Christi. Paulus erlebte keine »billige« Gnade, die die Sünde allgemeingültig vergibt, sondern »teure« Gnade. Gnade, die zur Buße führt und ohne Buße nicht denkbar ist. »Teure Gnade« – ein Wort Dietrich Bonhoeffers – teuer, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer, weil sie den Menschen das Leben kostet, Gnade, weil sie ihm so das Leben schenkt: »O welch eine Tiefe der Weisheit und Erkenntnis Gottes!«