Singen in der evangelischen Kirche als emotionaler und begeisternder Glaubensausdruck

von Jochen Kaiser

 

 

Ziel dieses Artikels ist es, in knapper Form eine empirisch-ethnografische Studie über das Singen in der

evangelischen Kirche vorzustellen. Musik und besonders Singen haben das Potenzial Emotionen auszulösen.

 

Zuerst ein kleiner Quiz - falls Sie Lust haben!

Sie können jetzt einige Videos aus kirchlichen Singveranstaltungen und Gottesdiensten sehen und sollen erraten, welche Emotion singend ausgedrückt wird. Sie können auch versuchen, die Kirchenjahreszeit des Liedes zu erraten, denn in der Passionszeit klingen die Lieder anders, als in der Osterzeit.

 

Falls Sie den Quiz machen wollen, müssen Sie unbedingt den Ton an Ihrem Gerät ausschalten!

 

Emotionen sind physische und psychische Vorgänge, die im Menschen ablaufen, aber ihn auch von außen ergreifen können. Weil sie physisch sind, können wir am Gesichtsausdruck, der Körperhaltung oder den Bewegungen erkennen, welche Emotion den anderen, z.B. bei einem Gespräch, bewegt.

 

Also "TON AUS" und los geht es:

Im Erklärungstext bei YouTube, habe ich immer etwas weiter unten - Sie müssen also "mehr anzeigen" anklicken - den Titel des jeweiligen Liedes angegeben.

 

 

Bei einem Treffen von Pfarrerinnen und Kirchenmusikern habe ich diesen Quiz durchgeführt und es zeigte sich - vielleicht haben Sie ein ähnliches Ergebnis -, dass offenbar die Verbindung von Emotionen und gottesdienstlichem Singen nicht so eng ist, wie man vermuten könnte.

 

Das empfinde ich als einen wesentlichen Auftrag an uns Kirchenmusiker, das Singen im Gottesdienst zu verändern und die Emotionalität zu fördern.

 

Das Singen wird allzu oft routiniert und ohne erkennbare emotionale Beteiligung vollzogen. Es ist eben üblich (und angenehm) im Gottesdienst zu singen.

Bei Singveranstaltungen auf Kirchentagen oder beim Singen von Gospelsongs zeigt sich ein komplett anderes Bild – auch dies ist auf Videos dokumentiert. Die Singenden sind begeistert.

Was finden Sie im Weiteren:

Nach einer knappen Vorstellung des Kano-Modells und der Entfaltung des Begeisterungspotenzials des Singens, folgen einige Anmerkungen zur ethnomusikologischen Funktionsanalyse des Singens, zwei Beispiellieder

werden entfaltet und das Erleben der gesungenen Lieder wird auf musikalische und kontextuelle Merkmale hin untersucht. Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass die Begeisterung in unseren Gottesdiensten durch das Singen ausgelöst werden kann, dass das Singen von alten Chorälen, Neuen Geistlichen Liedern und

Gospelsongs Begeisterungspotenzial in sich trägt und mit konkreten musikalischen und kontextuellen Merkmalen die Emotionen beeinflusst werden können. Dass der »Funke überspringt« ist allerdings nicht herstellbar, es bleibt ein Rest, vielleicht der entscheidende Rest, unverfügbar.

 

1. Das Kano-Modell oder Musik und ihr Begeisterungspotenzial

Das sogenannte Kano-Modell wurde in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren vom japanischen Wissenschaftler Noriaki Kano entwickelt und sollte im Rahmen von Qualitätsmanagement die Kundenzufriedenheit messen. Drei Ebenen für die Zufriedenheit der Teilnehmenden wurden unterschieden:

Basiserwartungen – unbewusst vorausgesetzte Erwartungen, die nur auffallen, wenn sie nicht erfüllt werden; Leistungserwartungen – bewusste Erwartungen, die starken Einfluss auf die Zufriedenheit oder Enttäuschung ausüben und Begeisterungsfaktoren – unterwartet werden Erwartungen übertroffen. Das »Qualitätszentrum für Gottesdienst« der EKD hat dieses Kano-Modell auf den Gottesdienst übertragen (Folkert Fendler (Hg.): Qualität im Gottesdienst. Was stimmen muss. Was wesentlich ist. Was begeistern kann, im Auftrag der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2015, 12-16)

Die Abbildung zeigt die drei Ebenen und benennt einige Beispiele für dieselben aus dem Bereich des Gottesdienstes und seiner Musik. Dieses Modell ist in doppelter Weise kein statisches Modell: einmal können begeisternde Elemente, z.B. ein durch die Kantorin angeleitetes Lied, nach einigen Gottesdiensten zu einer Leistungs- und nach weiteren zu einer Basiserwartung werden. Zum anderen begeistern den einen ein Element des Gottesdienstes, während die andere das gleiche Element als Basiserwartung gar nicht bewusst bemerkt. Diese Gewöhnungseffekte weisen das Kano-Modell als ein typisch kapitalistisches Modell aus, das auf Steigerung angelegt ist. Für Gottesdienste muss also kritisch beobachtet werden, ob dieses »Steigerungsspiel« (Gerhard Schulze: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?, Frankfurt am Main 2004) mitvollzogen werden soll oder ob nicht auch die Kraft des wiederholten Rituals in der bewussten Verweigerung immer neuer Ideen liegen könnte. Die Basiserwartungen müssen erfüllt sein. Dies ist im Bereich des Gottesdienstes nicht immer einfach, aber daran sollte unbedingt gearbeitet werden. Die Leistungserwartungen sind der Bereich, an dem Kirchenmusiker*innen und Pfarrer*innen arbeiten, Fortbildungen besuchen und eigenen wie fremden Ansprüchen genügen wollen. Die Begeisterungsfaktoren sind erst seit einigen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, für den evangelischen Gottesdienst wieder in den Blick gekommen. Der Gottesdienst – das klingt jetzt pointiert und darin auch überzeichnet – wurde als ernste Angelegenheit des sündigen Menschen mit dem hoffentlich gnädigen Gott angesehen. Dafür war eine angemessene Sonntagskleidung, Körperhaltung und reumütige Geisteseinstellung Voraussetzung. Doch durch den Einfluss der weltweiten Christenheit, die mit Begeisterung Gospelsongs singen oder körperlich aktive Tänze aufführen, wurden die ernsten Aspekte um fröhlich-begeisternde, auch in den evangelischen Gottesdiensten Deutschlands ergänzt. Das deutsche Wort »Be-GEIST-erung« verleitet vielleicht zu schnell dazu, das Hervorrufen dem Heiligen Geist zuzuschreiben. Im englischen »excitement« taucht weder »ghost« noch »spirit« auf.

 

 

Um auf das Phänomen der Begeisterung noch etwas näher einzugehen, soll geklärt werden, was »Begeisterung« eigentlich meint beziehungsweise bedeutet. Der Neurowissenschaftler Gerald Hüther (Gerald Hüther auf seiner Internetseite: http://www.gerald-huether.de/populaer/veroeffentlichungen-von-gerald-huether/texte/begeisterung-gerald-huether/, nachgeschlagen am 27.5.2016) erklärt Begeisterung als einen Zustand des Gehirns, bei dem die emotionalen Zentren aktiviert sind, die die Nervenzellen mit langen Fortsätzen anregen und einen Cocktail an Botenstoffen ausschütten, die dann den ganzen Körper und Geist beeinflussen. Hüther weist darauf hin, dass besonders Kinder diesen Zustand zwanzig bis fünfzig Mal am Tag erleben. Mit zunehmenden Alter ist nicht mehr alles neu auf dieser Welt und deshalb ist es normal, dass der Zustand der Begeisterung seltener wird. Hüther bringt nun auf seiner Website auch das Singen und die Hirnaktivitäten während des Singens mit den emotionalen Zentren des Gehirns zusammen. Singen aktiviert die emotionalen Zentren im Gehirn. Diese schlichte Aussage ist wissenschaftlich nicht so einfach und sicher zu belegen.

Gunter Kreutz hat den Forschungsstand zum Singen zusammenfassend dargestellt (Gunter Kreutz: Warum Singen glücklich macht, Gießen 2014). Er geht dabei auf die Hirnaktivitäten ein und skizziert, wie auch emotionale Zentren durch die Melodien angeregt werden (ebd., 40-45). Bei den körperlichen Vorgängen, z.B. Beeinflussung des Herz-Kreislauf-Systems, Reduzierung des Stresshormons Cortisol oder die Herzratenvariabilität, sind sich die Forschenden nicht einig. Allerdings konnte recht deutlich nachgewiesen werden, dass beim gemeinsamen Singen Oxytocin verstärkt produziert wird. Dieses Hormon ist für soziale, auch für langzeitige, Bindungen zuständig (ebd., 120-143).

Neben diesen wissenschaftlichen Beobachtungen zählt das eigene Erleben beim Singen: Singen macht glücklich!

In dieser Aktivierung der emotionalen Zentren des Gehirns und dem Gefühl der Gemeinschaft steckt das Begeisterungspotenzial des Singens. Da Singen selbstverständlich mit dem evangelischen Gottesdienst verbunden ist, liegt es nahe, das Singen so einzusetzen, dass die Begeisterungs-Möglichkeiten insgesamt steigen. Es soll nicht das »Steigerungsspiel« über das Singen doch noch eingeführt werden, aber Singen fördert die Begeisterung. Das gilt auch, wenn das gleiche Lied wieder erklingt. Das unterscheidet das Singen von dem gesamten Ablauf des Gottesdienstes, der häufig eher passiv wahrgenommen wird, während Singen eine Aktivität ist und die Begeisterung immer wieder entfacht, sogar beim Singen des gleichen Liedes. Deshalb soll im Folgenden beschrieben werden, wie das Singen zu einem emotionalen und begeisternden Glaubensausdruck im Gottesdienst werden kann. Zugegeben: die empirisch gesammelten Belege über das Singen, lassen erahnen, wie viel Veränderung des gewohnten Singens notwendig sind, damit das Begeisterungspotenzial in (vielen) Gottesdiensten eine Chance bekommt.

 

2. Erzählung charakteristischer Teilnehmer und Ethnomusikologische Funktionsanalyse des Singens

Die Herausforderung des Forschungsprojektes, das Singen zu untersuchen, war die Analyse des flüchtigen Prozesses des Singens. Lieder werden gedichtet und komponiert, um gesungen zu werden, doch die Hymnologie, als Wissenschaft, die unter anderem Lieder untersucht, nimmt als Grundlage die Noten und den Text. Die vom Verfasser entwickelte Analysemethode nennt sich »Erlebnisorientierte Liedanalyse« (Jochen Kaiser: Erlebnisorientierte Liedanalyse. Methodenvorstel-lung und Beispielanalyse, in: Bulletin der »Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie« 42, 2014, 255-272. Vgl. ders.: Erlebnisorientierte Liedanalyse. »Der Lärm verebbt«, in: LuK 5, Heft 1, 2014, 44-49) und will die erklingenden Lieder im Moment des Singens erfassen. Dass dieses Vorhaben, flüchtige Klänge festzuhalten, nicht gelingen kann, darf aber nicht dazu führen, nicht doch der Versuch zu unternehmen, sich den Erlebensprozessen zu nähern.

Daten wurden durch teilnehmende Beobachtung, durch Interviews, Fragebögen zu einzelnen Liedern und Videoaufnahmen gewonnen. In der «Erlebnisorientierten Liedanalyse« entstehen durch die Untersuchung der Daten dichte Beschreibungen vom Singen, die »Erzählungen charakteristischer Teilnehmer« genannt werden.

Diese Erzählungen von verschiedenen Liedern sind aber nur schwer miteinander zu vergleichen, deshalb wurden sie systematischer gefasst, indem fünf Sicht-weisen heuristisch getrennt untersucht wurden, die im Erleben untrennbar miteinander verbunden sind. Diese fünf Dimensionen sind die »Ethnomusikologische Funktionsanalyse«:

1. Erleben aus religiös-transzendierender Sicht: Die gesungenen Lieder gehören zur religiö­sen Realität der christlichen Religion. Diese Zuordnung der Lieder anhand des Textes und des Aufführungskontextes hat Einfluss auf das Erleben der Singenden. Es wird das dreiteilige Konzept von Transzendenz genutzt, welches Thomas Luckmann (Privatisierung und Individualisierung. Zur Sozialform der Religion in spätindustriellen Gesellschaften, in: Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter (Hg.): Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn 2004, 136-148) entwickelt und in dem das Singen ein hohes Potenzial für große Trans­zen­dierungen hat, ohne dass diese zwangsläufig religiöse Erfahrungen sein müssen. In den Fragebögen, die direkt nach dem Singen eines Liedes ausgefüllt wurden gab es eine Variable »nicht geborgen – geborgen«, die als religiöse Variable interpretiert wird. Und ein weiterer Aspekt der religiös-transzendieren-den Sicht ist die Unterscheidung von »really worshipping« und »erfüllendem Singen«. Diese Differenzierung des gottesdienstlichen Singens ist abgewandelt von Gordon Adnams (Gordon Alban Adnams: The Experience of Congregational Singing: An Ethno-Phenomenological Approach, Edmonton 2008.

http://www.worshipsinging.ca/profile/Final%20Dissertation%20in%20pdf.pdf (nachgeschlagen am 28.05.2016). Vgl. zum ganzen Komplex really worshipping vs. just singing: Gordon Adnams: ›Really Worshipping‹, not ›Just Singing‹, in: Monique Ingalls, Carolyn Landau, Thomas Wagner (Hg.): Christian congregational music: performance, identity, and experience, Farnham 2013, 185-200) übernom-men und unterscheiden das lustvolle und emotionale Singen von dem Singen als Lob- oder Klagegebet, als Glaubensbekenntnis und Verkündigung. Wobei im Gottesdienst beide Aspekte verbunden erklingen sollen.

2. Erleben aus kommunikativer Sicht: Singen wird als Kommunikation verstanden. Von besonderer Wichtigkeit sind melodische Klänge für die Kommunikation, z.B. bei der motherese, die ohne die Wortsprache auskommen und trotzdem Bedeutungen kommunizieren. Die kommunikative Sicht meint auch körperliche Interaktionen, Blickkontakt, Mimik und Gestik, die Bedeutung transportieren. Vier Aspekte umfasst die Analyse der kommunikativen Perspektive: kommunikative Verbindungen zwischen den Singenden, zwischen den Leitenden und Singenden, zwischen den Singenden und Gott. Der vierte Aspekt untersucht die kulturellen Codes, die verwendet werden, wenn beispielsweise die Hände nach oben gestreckt werden, was in einigen Communities als Gebetshaltung gemeint ist.

3. Erleben aus ästhetischer Sicht: Ästhetisches Erleben nimmt das einmalige und eindrucks­volle Zusammenspiel der Singenden, der Lieder/Songs und des Erklingenden in den Blick. Um dieses Erleben analytisch betrachten zu können, wird das ästhetische Modell von Martin Seel ( Martin Seel: Zur ästhetischen Praxis der Kunst, in: Ders.: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main 1996, 126-144, 130-138) adaptiert. Diese drei ästhetischen Praxen sind einerseits theoretische Trennung eines ganzheitlichen Erlebens und sind andererseits empirisch schwierig zu überprüfen. Um dies zu erleichtern, werden den drei Zugängen emotionale, körperliche und kognitive Aktivierungen zugeordnet:

· Ästhetik der Korrespondenz – sie tritt ein, wenn die präsente musikalische Erfahrung auf das passende Lebenskonzept trifft. Das hat dann affirmative Wirkung auf den Singenden. Hier wird eine Nähe zur emotionalen Aktivierung diagnostiziert.

· Ästhetik der Kontemplation – sie tritt ein, wenn man in sinnlichen Genüssen schwelgt, die nicht rational eingeordnet werden müssen. Ergänzend zu Seel, sollte der Erfahrung einer mystisch-kontemplativen, auch die ekstatische Alltags-transzendie­rung an die Seite gestellt werden. Diese ästhetische Praxis hat eine Nähe zur körperlichen Aktivierung, einmal in extremer Beruhigung und zum anderen in ekstatischem Tanz.

· Ästhetik der Imagination – sie tritt ein, wenn das eigene Weltbild infrage gestellt wird und so neue ästhetische Erfahrungen möglich werden. In dieser Praxis ist eine Nähe zur kognitiven Aktivierung zu erkennen, denn die neuen Erfahrungen können leichter eingeordnet werden, wenn sie verstanden werden. Bei Seel sind in dieser Praxis hauptsächlich Erfahrungen mit moderner/abstrakter Kunst gemeint.

4. Erleben aus psychologischer Sicht: Die innerpersonellen Vorgänge, die emotionale Episoden auslösen und zum Wohlbefinden der Singenden beitragen, werden untersucht. Dabei ist die psychologische Sicht keine Entgegensetzung zur sozialen, weshalb sie nicht »individuell« genannt wurde. Es geht aber um die

Konzentration auf das Erleben des Einzelnen, welche Emotionen sie/er gespürt hat und welcher individuelle Nutzen aus dem Singen gezogen wurde. Dafür werden vier Variablen aus dem Fragebogen untersucht: »unangenehm – angenehm«, »unzufrieden – zufrieden«, »nicht gefallen – gefallen« und »nicht berührt – überwältigt«. Zusätzlich wird die Unterscheidung zwischen Beurteilen und Erleben des Singens betrachtet. Bleibt das Beurteilen eher ein distanziertes Betrachten, ist man körperlich, psychisch und geistig in das Singen eingebunden, wenn das Erleben ausgedrückt wird. Wenn ein Lied erklingt, können wir sagen: das klingt fröhlich, doch dies ist zu unterscheiden von unserem Empfinden, dass dieses Lied uns selbst fröhlich macht (Heiner Gembris: Experimentelle Untersuchungen, Musik und Emotion betreffend. Zum Verhältnis Musikurteil – Musikerleben, in: Klaus-Ernst Behne: Gefühl als Erlebnis – Ausdruck als Sinn, Laaber 1982, 146-161).

5. Erleben aus sozialer Sicht: Das Gemeinschaftsgefühl während des Singens wird häufig als faszinierend beschrieben. Diesem affektiven Zusammengehörigkeits-gefühl, dass Gemeinschaft als emotionales Geschehen erfasst, wird in dieser Funktion nachgegangen. Zwei Variablen des Fragebogens können dafür genutzt werden: »einsam – zugehörig« und »Solo-Feeling – Gruppen-Feeling«. Unterschieden werden drei Ebenen der Zugehörigkeit: Zugehörigkeit zum gesungenen Lied, weil es schon viele Jahre bekannt ist und das »Leben« begleitet, Zugehörigkeit zu den anderen Singenden, was sich als »Gruppen-Feeling« ausdrückt und Zugehörigkeit zu Gott, weil das Singen als Gebet oder Kommunikation des Evangeliums erlebt wird. Wie dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen kann, soll in dieser Sicht mit bedacht werden. Deshalb wird nach rhythmischen und körperlich bewegenden Elemente gefragt oder auch nach klanglichen Elemente wie Clustern, denn zum Entstehen eines Clusters muss jede und jeder die eigene Stimme dem Gesamtklang zur Verfügung stellen.

 

Diese fünf Funktionen vereinfachen das Vergleichen des Singens von verschiedenen Liedern, da immer die gleichen Fragen an die »Erzählungen charakteristischer Teilnehmer« gestellt werden.

 

 

3. Beispielhafte Analysen von zwei Liedern

Im Forschungsprojekt wurden 41 Lieder untersucht, die in Gottesdiensten oder kirchlichen Singveranstaltungen gesungen wurden. An dieser Stelle sollen zwei Lieder näher vorgestellt werden, die in gewisser Hinsicht als Extreme bezeichnet werden können: »Komm in unsre stolze Welt« und »Amazing Grace«. Bei den Fragebogenauswertungen markieren diese beiden Lieder häufig die extremen Positionen. Während »Amazing Grace« als überwältigend erlebt wurde, waren die Singenden von »Komm in unsre stolze Welt« kaum berührt. Die emotionale und begeisternde Dimension des Singens ist bei »Amazing Grace« vorherrschen. Durch das Kirchenlied »Komm in unsre stolze Welt« wird die kognitive Dimension des Singens eingeführt. Dass auch dieses Lied für das Singen in der Kirche und in Gottesdiensten wichtig ist, soll betont werden, allerdings bedarf es vielleicht einiger didaktischer Überlegungen, damit dieses etwas sperrige Lied verstanden wird und dann vielleicht doch Emotionen auslösen kann.

 

3.1 »Amazing Grace« – ein emotionaler und überwältigender Song

Auf dem Gospelkirchentag in Kassel (2014) wurde »Amazing Grace« gesungen. Das Ergebnis der Analyse wird im Folgenden in doppelter Weise vorgestellt. Zuerst ist die »Erzählung eines charakteristischen Teilnehmers« abgedruckt, die das Forschungstagebuch, die Video- und Soundanalyse, die Fragebogen- und Gesprächsauswertung sowie die klassische Liedanalyse enthält. Dann folgt die »Ethnomusikologische Funktionsanalyse«, wie sie oben allgemein beschrieben wurde.

 

Farblegende der Quellen: Forschungstagebuch, Videobeschreibung, Sound(-geschichte)

Fragebogen, Interviews und Gespräche, Klassische Liedanalyse.

 

Es werden einige Ansagen gemacht. Auch ein Hinweis auf unsere Forschung wird gegeben. M., der Moderator, sagt, dass diese letzten zwei Songs »Loved 1« und »We are changing the World 1« das ganze Evangelium beinhalteten. »Du bist von Gott geliebt« und »das verändert die Welt«. So einfach und leicht ist das alles!

Es folgt ein Hinweis auf den Gospeltag. Ein Song soll durch die Welt gehen und sie besser machen. In diesem Jahr ist es »Amazing Grace«.

Mythenhaft mutet die Geschichte hinter diesem Lied an. John Newton, ein ehemaliger Sklavenschiffkapitän soll sich für die Befreiung der Sklaven eingesetzt haben, nachdem er sich zum christlichen Glauben bekehrt hatte. Die erste Strophe besingt die unglaubliche Gnade, dass ein Mann wie er, Newton, von Gott angenommen wird. Der Satz: »I once was lost, but now I’m found«, erinnert an Luk 15 und den »verlorenen Sohn«, während das nächste Bild: »was blind, but now I see«, an Paulus Bekehrung Apg 9 erinnert. Das Lied ist eines der meistgesungenen geistlichen Lieder auf der Welt. Jede Strophe hat vier Zeilen mit je 8, 6, 8 und 6 Silben, jambischer Betonung und Kreuzreim.

Die Melodie erschien erstmals 1831 im Gesangbuch »Virginia Harmony«, vielleicht geschrie­ben von James P. Carrel und David S. Cleyton. Sie ist recht regelmäßig gebaut. Der Dreiertakt hat immer eine Halbe auf der Eins, die Zählzeit Drei ist dann entweder eine Achteltriole, zwei Achtel oder eine Viertel. Diese Beachtung der Drei im langsamen Tempo bewirkt ein gefühlvolles Singen. Es ist nicht tänzerisch, was bei einem Dreiertakt nicht ungewöhnlich wäre. Die Ruhe kommt durch die lange Note am Anfang jedes Taktes. Das Lied steht in Dur. Es beginnt mit der Quarte unter dem Grundton, schwingt sich aber gleich auf den Grundton und entwickelt sich bis zur Oberquinte, sodass es eine Oktave im Umfang hat. Es ist von der Musik her sehr volkstümlich und leicht zu singen. Die höchste Note wird in der Mitte der Strophe erreicht, dann geht die Melodie wieder abwärts und schwingt sich am Ende noch einmal auf bis zur Terz. Die Form ist rhythmisch: a, a‘, a‘‘, a‘ und melodisch: a, a‘, b a‘‘. Sie geht zur Dominante und am Ende fehlen zwei Töne, weil es ja nur sechs Silben sind. Die sehr emotionale Triole kommt viermal vor, also in jeder Zeile und hat immer die gleichen Töne. Der höchste Ton wird nur zweimal erreicht. Das erste Mal ist es auch gleich der allerlängste Ton, so als bliebe die Musik stehen. Der Text ist dort bedeutsam, denn es heißt: »a wretch like me«, und das »me« wird auf den hohen Ton gesungen. Danach bleibt die Melodie noch kurz bei diesem Ton mit den Worten »I once«. Man könnte das so interpretieren, dass wir uns durch die amazing grace aufschwingen können in ungeahnte Höhen, auch wenn wir wretches bleiben.

Punkt zwölf Uhr singen wir alle und in ganz Deutschland noch 30 weitere Chöre. Dazu er­zählt M. eine emotional aufgeladene Geschichte, die er, als Botschafter für »Brot für die Welt« in Bangladesch, selbst erlebt hat: Ein armes Mädchen wurde als Sklavin verkauft und die Sklavenhalterin fand das ganz normal ... Mich ärgert die Story, die so emotional und irgendwie auch manipulierend erzählt wird. Wird man damit dem Problem gerecht? Nun soll Geld gesammelt werden für eine Schule in Bangladesch. Doch was ist mit den anderen, die M. nicht besucht hat?! Was können wir tun, außer unser Gewissen mit Geldspenden zu beruhigen …

Aber dann singen wir einfach »Amazing Grace«. J. leitet das Singen. Er beginnt mit einer sehr ruhigen Strophe, allerdings verstehen wir seine Zeichen nicht richtig, so entsteht ein kleines Chaos, denn er möchte eigentlich in jedem Takt auf der Eins eine Fermate haben. Beim zweiten Anlauf klappt es. Wir halten die Töne kraftvoll aus, es klingt aber auch etwas statisch. J. steht mit weit offenen Armen vor uns. Man muss sich an diese Art von »Amazing« erst gewöhnen, denn eigentlich wird das Lied zwar langsam, aber doch mit einem gewissen Fluss gesungen. Es ist ein ruhiges, kraftvolles und emotionales Singen. Viele Sänger schließen die Augen, singen andächtig und sichtlich gerührt. Einige erzählen von Gänsehaut. Wir fühlen, dass das jetzt ein Höhepunkt unseres Singens ist. Die Massen der Singenden stehen fast bewegungslos. So, wie es klingt, sehen die Singenden auch aus, aber es sind sehr zufriedene Gesichter, einige lächeln sogar. Die kleinste Bewegung wird durch die gehaltenen Akkorde und die Pausen zur Ruhe gebracht, man könnte fast sagen: eingefroren, z. B. bei F. Viele andere, A, C, D und F, singen gut mit, bleiben aber fast unbeweglich stehen. Deshalb wirkt das Lied auch eher beruhigend. Die Band, die uns begleitet, hält die Klänge mit aus und das Becken markiert die schnelleren Noten, was einen hellen und eigentlich zu fröhlichen Klang abgibt. Das Lied wird nicht als fröhlich erlebt, aber als überwältigend. Das Lied ergreift uns. Der volle und voluminöse Klang der 5.000 Singenden hüllt uns ein und lässt uns in den Moment eintauchen. Sanft und kraftvoll, weich und hell klingen die Stimmen. In großer Einstimmigkeit erklingen sie.

In der zweiten Strophe kommt dann etwas Bewegung auf. Wir singen immer noch sehr langsam, aber nun im richtigen Takt. Um das gemeinsame Pulsieren zu spüren, helfen Bewegungen. Noch sind sie nur bei einigen zu beobachten und noch sind sie sehr klein. Nach und nach entwickelt sich die Bewegung, z. B. bei B, die sich um ihre eigene Achse dreht und hoch motiviert singt. In der dritten Strophe sieht man dann schon gleichmäßige Bewegungen von mehreren. C singt kräftig mit, hat aber die Augenbrauen zusammengezogen und sein Lächeln verschwindet nach und nach, er steht etwas gekrümmt da. Der Klang ist mittellaut und sehr weich, fast etwas melancholisch. Die Band spielt eine klassische Begleitung, die von einem verhaltenen Schlagzeug und dem Sound einer Hammondorgel geprägt ist.

Bei der Wiederholung der ersten Strophe, einen halben Ton höher, fassen die Singenden einander an den Händen (A, B, D, E und etwas später C und F). Dafür legen sie ihre Singhefte oder die Handys weg. Einige heben die Hände und wiegen sich im Takt. Allerdings sieht man trotzdem noch einige mit Handy in der Hand, z. B. E. Es ist ein farbiger Sound, der mit jeder Tonerhöhung heller und strahlender wird. Dabei werden wir ganz ruhig und spüren die Verbindung mit den anderen und mit Gott, von dessen Gnade wir singen. Als wir einander an den Händen fassen und uns leicht im Rhythmus wiegen, gehören wir alle zusammen. Es ist emotional, wie wir einander anfassen, es rührt mich und ich halte meine Stimme im Zaum. Einige um mich herum wischen sich die Augen. Wir singen eine Botschaft, die emotional und geistlich ist und körperlich ausgedrückt wird.

Die Frauen bewegen sich viel mehr und viel freier als die Männer. Die Frauen heben die Arme über den Kopf (D) und zeigen so die Verbindung untereinander, zeigen quasi ihre Gemein­schaft an. Die fühlbare Einheit der mich umgebenden Masse, deren Teil ich bin, hat etwas Tröstliches, Bergendes, Wohltuendes, ist aber irgendwie auch gespenstisch. Was verbindet diese Gemeinschaft, der ich für den Moment offenbar angehöre – die 5.000 vor Ort und die angekündigten weiteren Sänger weltweit? Ist es der ethische Handlungswille? Der Glaube? Die Liebe zur Musik? Sind es alle drei Motive oder ist es gar nichts davon? Insgesamt wirkt das Lied jedoch nicht ausgelassen und fröhlich. Am Ende werden wieder lange Fermaten ausgehalten, die Ruhe und Kraft in den Klang bringen. Der Klang steht im Vordergrund. Die Stimmen klingen weich und rund, auch in diesem gemeinschaftlichen Sound wird unser Ge­meinschaftserleben erkennbar. Es ist eine sehr dichte Atmosphäre bis hin zu einem langen Schlusston, dann löst sich die aufgeladene Stimmung in Jauchzen und Klatschen auf. Als der letzte Ton verhallt ist, brandet Beifall auf und wir schütteln einander die Hände, bevor wir uns loslassen (C und besonders F). Einige rufen und juchzen auch (z. B. F). Diese schlichte Musik hinterlässt doch einen unvergesslichen Eindruck, der absolut positiv bewertet wird.

Letzte Ansagen von M., wir sehen uns heute Abend bei »Amazing Grace« wieder und nun könnt ihr gehen oder noch etwas singen. »Gott befohlen!« sagt M. und dann bleibt der Schluss offen, man kann gehen oder noch etwas singen.

 

Soziale Funktion

Wie ist die gefühlte Zusammengehörigkeit: Fühlen sich die Singenden einsam oder zugehörig

                      26 Fragebögen

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

einsam

3,8

 

11,5

23,1

57,7

zugehörig

Interpretation der Skala:

Über die Hälfte der Singenden haben den Wert 5 und damit ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit angekreuzt. Der Song wurde in der Aktion »Gospel für eine gerechtere Welt« gesungen und dadurch mit einer eindeutigen ethisch-religiösen Botschaft verbunden.

Befragung der Geschichte: Ist etwas zu entdecken, das auf einen Prozess der wachsenden oder abnehmenden Gemeinschaft hinweist?

Ja, das Gemeinschaftsgefühl nahm zu. Das ist daran zu erkennen, dass wir uns während des Singens an den Händen fassten und dann sehr gleichmäßig hin und her bewegten.

Zugehörig: a) Aussagen zum Lied; b) zu den anderen Singenden; c) zu Gott.

a) Das Lied ist nicht nur ein Klassiker, sondern es war auch das Motto des Gospelkirchentages. Am Abend sollte ein neues Musical über den Lieddichter John Newton uraufgeführt werden. Deshalb wurde dieses Lied auch auf der Ebene der textlichen Aussage sehr gut verstanden. Wir hatten eine starke Verbindung zu diesem Lied.

b) Die Zugehörigkeit wurde unter den Singenden schon durch die Ansage, dass wir mit diesem Lied »die Welt verändern« und uns gegen Sklaverei aussprechen, ethisch stark eingeführt. Emotional kam das dann durch das Sich-an-den-Händen-Fassen zum Ausdruck.

c) Gott war im Spiel, denn es wurde die Bekehrung von John Newton angedeutet. Der Moderator sagte auch, in »Loved« und »We are changing the World« – das waren die beiden Lieder vor »Ama­zing Grace« – werde das ganze Evangelium ausgedrückt. Als das Singen startete, erlebten wir die Gemeinschaft, fühlten etwas von der transzendenten Verbindung zu den anderen Chören, die in Deutschland zeitgleich sangen, aber ob die Verbindung zu Gott so vorhanden war, ist unsicher. Schon das »We are changing the World« hatte die Tendenz, unser (!) Handeln sehr zu betonen.

Zugehörigkeit:

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

zum Lied

3

zur Gruppe

3

zu Gott

2

 »Solo- – Gruppen-Feeling« – Vergleich mit »einsam – zugehörig«

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

Solo-Feeling

3,8

3,8

11,5

34,6

42,3

Gruppen-Feeling

 

 Das Gruppen-Feeling liegt im Median bei 4. Die meisten Singenden haben die 5 angekreuzt, aber die Gewichtung von 4 ist deutlich höher als bei dem Item »einsam – zugehörig« (um 15%). Nur bei weni­gen Liedern ist die Gewichtung des Items »zugehörig« höher als die von »Gruppen-Feeling«. Die Zugehö­rigkeit zum Lied und den Singenden sowie der Situation war bei diesem Lied auffallend deutlich ausgeprägt.

Welche körperlichen oder rhythmischen Aktivitäten drücken Gemeinschaft aus?

Bei den beiden letzten Strophen fassten die Singenden einander an den Händen und wiegten sich im Rhythmus. Das Lied ist nicht rhythmisch, doch durch das Wiegen und Anfassen wurde ein starkes Gemeinschaftsgefühl ausgedrückt. 

Welche klanglichen Aspekte lassen auf ein Gemeinschaftsgefühl schließen?

In der ersten und letzten Strophe dirigierte uns J. und hielt viele Töne lange aus. Das führte dazu, dass der Klang dominierte und uns emotional miteinander verband.

 

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

Körperlichkeit

2

Rhythmus

1

Klang

3

 

Psychische Funktion 

Wie ist das Befinden der Singenden?

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

unangenehm

11,5

 

3,8

23,1

61,5

angenehm

unzufrieden

7,7

3,8

3,8

19,2

65,4

zufrieden

nicht gefallen

15,4

 

 

23,1

57,7

gefallen

 Interpretation:

Deutlich über die Hälfte der Singenden kreuzte bei allen drei Items den Wert 5 an, jeweils ca. ein Viertel den Wert 4. Das Singen war also sehr »angenehm«, die Singenden waren »zufrieden« und es hat ihnen »gefallen«.

Welche Emotionen kommen in der Geschichte vor?

a) die der Musik zugeschrieben werden:

Der Musik werden gar nicht so viele Emotionen zugeschrieben. Das Lied wurde als emotionaler Ausdruck der Lebenswende von John Newton eingeführt und das bestimmte die Zuschreibungen an die Musik. 

b) die erlebt werden:

Erlebt wurde das Lied sehr emotional. Einige emotionale Beschreibungen lauten: andächtig, gerührt, Gänsehaut, Höhepunkt des Singens, fühlbare Einheit, tröstlich, bergend. Die transzendente Gemeinschaft mit anderen, die verteilt über Deutschland zeitgleich sangen, wurde auch als etwas gespenstisch erlebt.

Von welchem individuellen Nutzen des Singens wird berichtet?

Die Gänsehaut und die Tränen, von denen erzählt wurde, zeigen, dass das Lied emotional sehr ansprechend war und das war ein individueller Nutzen, der auch durch die erlebte Gemeinschaft getragen wurde.

 

Ästhetische Funktion

Wie waren die Singenden in das Singen eingebunden, waren sie emotional berührt?

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

nicht berührt

3,8

 

 

34,6

57,7

überwältigt

 

Das Singen dieses Songs wirkte absolut überwältigend; 92,3% fühlten sich angesprochen, eingebunden, ja geradezu überwältigt. Das zeigt auch das Video, wobei auffällt, dass offenbar die körperliche Verbindung – die Singenden fassten sich an den Händen – eine wichtige Rolle spielte.

In begrifflicher Anlehnung an Christopher Wallbaums Aufnahme von Martin Seels drei ästhetischen Praxen: 

a) Korresponsiv-ästhetische Singpraxis: Wie wird ausgedrückt, dass die eigenen Vorlieben bestätigt werden?

Die eigene musikalische Präferenz wurde bei diesem Singen bestätigt und damit hatte das Singen affirmative Wirkung.

Wie ist das Wohlbefinden thematisiert?

Anhand der Videoaufnahmen und der Fragebögen ist zu sehen, dass hier das Wohlbefinden sehr vorherrschend war.

Verweis auf Emotionen:

Es wurde berichtet von Emotionen wie: andächtig, gerührt, Gänsehaut, Höhepunkt des Singens, fühlbare Einheit, tröstlich, bergend, wohltuend, aber die Gemeinschaft war auch gespenstisch.

b) Bloß-sinnlich sinnabgewandte ästhetische Singpraxis: Welche Wahrnehmung mit unseren Sinnen wird erkennbar?

Während des Singens gewann dieser Zugang an Bedeutung. Die Wiederholungen der ersten Strophe, das Einander-Anfassen und gleichmäßige Wiegen stärkten das aktuell sinnlich zu erfahrende Gemeinschaftserlebnis zusehends.

Welche körperlichen Aktivitäten sind zu beobachten, die die Einbindung der Singenden ausdrücken, ohne gleich Bedeutungen zuzuschreiben?

Das Einander-Anfassen der Singenden und das gleichmäßige Sich-Wiegen im Rhythmus.

c) Imaginativ-ästhetische Singpraxis: Welche Störungen des selbstbezüglichen Wohlbefindens sind zu entdecken?

Es gab keine Störungen und obwohl das Lied in den Einführungen ethisch sehr in Anspruch genommen wurde, war von diesem Zugang kaum etwas zu spüren. Das Einander-an-den- Händen-Fassen, um gemeinsam die Welt zu verbessern – dies wäre eine mögliche Interpretation – war wohl doch eher ein Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls der Anwesenden.

Welche neuen Erfahrungen werden ausgedrückt?

Keine. Das Neue war vielleicht für einige, dass die Entstehungsgeschichte des Songs und der Texter mit seiner Lebensgeschichte etwas hervorgehoben wurden.

Wird den neuen Erfahrungen Bedeutung zugeschrieben? Wenn ja, welche?

Das Singen des Liedes startete mit einem starken Appell, die Welt zu verbessern. Ob das tatsächlich im Singen wahrgenommen wurde, weiß ich nicht. Bei mir war es nicht so.

Ästhetische Praxis

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

a) korresponsiv

3

b) sinnabgewandt

2

c) imaginativ

1

 

Kommunikative Funktion

Welche kommunikativen Verbindungen sind zwischen den Singenden zu sehen?

Wir sangen gemeinsam und nahmen dieses gemeinsame Tun auch wahr, weil wir das Lied ja gut kannten. Das Einander-Anfassen verstärkte die Zusage an die anderen, dass wir gemeinsam singen.

Welche kommunikativen Verbindungen sind zwischen den Leitenden und den Singenden zu sehen?

Der Leiter dirigierte das Singen. Nach einer anfänglichen Panne waren alle Singenden sehr auf ihn ausgerichtet, wie man im Video sehen kann und er zeigte ohne Worte an, wie wir singen sollten. Seine Hinweise sollten klangliche und rhythmische Veränderungen bewirken.

Welche kommunikativen Verbindungen sind zwischen den Singenden und einer übermenschlichen Macht zu sehen?

Einige hatten die Augen geschlossen, sodass eine Verbindung zu Gott gegeben haben könnte wie im Gebet. 

Welche kulturellen Codes werden verwendet?

Codes des Dirigierens.

 

Religiös-transzendierende Funktion 

Analyse des Kontextes – welche religiösen Rahmungen sind zu erkennen?

Die Veranstaltungshalle wirkte nicht religiös, aber hatte eine gute Atmosphäre, weil viele Singen­de da waren. Anlass des Singens war der GKT, also eine religiöse Veranstaltung. Schon mehrfach beschrieben: Das Lied wurde emotional und religiös sehr aufgeladen präsentiert und gesungen.

 

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

nicht geborgen

15,4

3,8

11,5

34,6

34,6

geborgen

 

Interpretation – ist hier etwas von Geborgenheit bei Gott erkennbar? 

Die Geborgenheit ist mit dem Median 4 recht hoch eingestuft, was heißt, dass dieses Gefühl vorhanden war.

War dieses Singen really worshipping?

Ja, die geschlossenen Augen sprechen dafür, dass diese Dimension da war.

 War dieses Singen erfüllendes Singen?

Ja, es war erfüllendes Singen, denn im Vordergrund stand bei den meisten das Singen. Es verband uns und machte Spaß, löste große Emotionen aus und erfüllte die Halle.

Religiöse Atmosphäre

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

really worshipping

2

erfüllendes Singen

3

 Falls es angeleitetes Singen war: Welche Hinweise geben die Leitenden zur religiösen Ebene – emotional, textlich und vom Kontext her?

Das Lied wurde eingeleitet als ein Lebenswendelied. Die rührenden und teilweise manipulierenden Geschichten dazu betonten massiv eine ethische Ebene. Diese war aber eher nicht religiös oder christlich.

Was für Aussagen sind in den Interviews (zu diesem Lied) zu finden?

Die emotionale Bewegtheit wird angesprochen.

 

26 Fragebögen

 

Anzahl

Quartile

Ratingskala, Angaben in Prozent

Gültig

Fehlend

25

50

75

1

2

3

4

5

beruhigend – anregend

26

0

1

2

4

26,9

30,8

15,4

19,2

7,7

leiser – lauter Klang

26

0

2

3

3

15,4

23,1

50,0

7,7

3,8

einsam – zugehörig

25

1, 3,8%

4

5

5

3,8

 

11,5

23,1

57,7

unangenehm – angenehm

26

0

4

5

5

11,5

 

3,8

23,1

61,5

unzufrieden – zufrieden

26

0

4

5

5

7,7

3,8

3,8

19,2

65,4

nicht gefallen – gefallen

25

1, 3,8%

4

5

5

15,4

 

 

23,1

57,7

nicht berührt – überwältigt

25

1, 3,8%

4

5

5

3,8

 

 

34,6

57,7

nicht geborgen – geborgen

26

0

3

4

5

15,4

3,8

11,5

34,6

34,6

trauriges–fröhliches Empfinden

25

1, 3,8%

2

3

4

7,7

19,2

23,1

26,9

19,2

weicher – harter Klang

25

1, 3,8%

1

2

2

46,2

30,8

15,4

3,8

 

Solo- –Gruppen-Feeling

25

1, 3,8%

4

4

5

3,8

3,8

11,5

34,6

42,3

Angaben in den Fragebögen für »Amazing Grace«, Quartil 50 = Median.

Grüne Markierung = hohe/höchste Gewichtung der Skala;

gelbe Markierung = niedrige Gewichtung < 10%

                       

Das Erleben dieses Songs war sehr einheitlich. Nur das Item »trauriges Empfinden – fröhliches Empfinden« zeigt, dass bei diesen melancholischen Songs in einer großen Singgemeinschaft einige Singende eher ein fröhliches Gefühl haben.

 

3.2 »Komm in unsre stolze Welt« – eine neues Kirchenlied

Diese Lied wurde in einem Gottesdienst gesungen. Nach der Erzählung folgt wieder die ethnomusikologische Funktionsanalyse.

 

Farblegende der Quellen: Forschungstagebuch, Videobeschreibung, Sound(-geschichte), 

Tabelle des Semantischen Differenzials, Interviews und Gespräche, Klassische Liedanalyse.

 

Die Epistel wird gelesen und alle stehen auf. Als dann das Halleluja wieder von der Capella, also solistisch erklingt, setze ich mich sofort hin, einige um mich herum setzen sich auch, aber die meisten bleiben stehen. Dadurch bin ich abgelenkt. Hätte ich stehen bleiben sollen? Doch warum stehen, wenn ich Musik höre, beim Singen darf ich auch nicht stehen. Es ist ein ausführliches Musikstück, das einen Psalmvers aufnimmt. Das Halleluja wird am Anfang und am Ende gesungen. Vor der Wiederholung des Hallelujas ist eine kurze Pause. Da setzen sich alle, fast gleichzeitig hin, es wirkt wie auf Befehl. Als dann das Halleluja anfängt, sind einige irritiert und schauen sich um, ob sie doch noch stehen müssten. Man sieht, wie sich einige anlächeln, weil dies eine Unklarheit ist… Einige schauen auch nach oben zu den Musizierenden. Dann sitzen alle und zwar in andächtiger Stille und ruhiger Haltung. Zwischen dem solistischen Halleluja und dem Vorspiel für das nächste Lied ist eine Pause von 10 Sekunden, es ist fast lautlos still und ruhig in der Kirche, nur ein leises Wispern ist zu hören. Diese ruhig-andächtige Haltung bleibt erhalten, als das Vorspiel beginnt, nur einige schlagen das Lied im Gesangbuch auf.

Als Graduallied singen wir EG 428, »Komm in unsre stolze Welt«. Ein Lied, das Manfred Schlenker vertonte. Das freut mich immer und erinnert mich an die Kindheit, weil ich in seinen Chören aufgewachsen bin. Das Vorspiel ist etwas modern, aber sehr stimmungsvoll und ich freue mich über die vielfältigen Klänge der Orgel, die sehr viele Schattierungen zulässt. Das Vorspiel ist ein klanglicher und musi­ka­lischer Kontrast zum Halleluja von Isaac. Es ist aber recht schlicht, spielt mit hellen Farb­re­gistern, spielt immer recht zart die Melodie ein. Musikstil und Lied passen gut zusam­men. Allerdings ist das Lied textlich eher eine sehnsuchtsvolle Bitte, das hört man nicht. A, B, C, D, E und F sitzen sehr ruhig, A, B, D und F schauen beim Vorspiel nach unten, wäh­rend C und E aufrechter sitzen und frei umher blicken. D und F lesen im Buch mit. Als dann das Lied beginnt, heben sich die Köpfe etwas (A, B, D, F) und alle singen recht gut mit, sie sind jetzt aktiver als beim Vorspiel. Doch A sitzt recht gebeugt und schaut ins Buch. B, C, D, E und F sind aufrechter. Alle sind auf das Buch konzentriert und insgesamt ist wenig körperliche Bewegung zu sehen. C und F bewegen sich etwas im Rhythmus und man sieht ihr Einatmen. E blickt immer mal umher. Es ist eine konzentrierte Atmosphäre. Der Gesang ist nicht ganz so kräftig wie beim ersten Lied, scheinbar ist das Lied doch nicht so bekannt. Allerdings erzählen mehrere in den Interviews, dass sie dieses Lied kannten. Die erste Strophe beginnt etwas unvermittelt, sodass wir nicht alle beim ersten Ton dabei sind. Die Orgel spielt eher laut und grundtönig, es klingt ganz anders als im Vorspiel. Die Melodie lässt sich ganz gut singen, wenn man merkt, dass das gleiche Motiv einen Ton höher wiederholt wird. Herb vom Ausdruck bleibt sie, aber das passt ja auch zum Thema des Liedes. Ich versuche, kräftig zu singen, um auch andere mitzureißen, doch da stört mich die Kirchenbank. Wenn ich normal sitze, muss mich etwas krümmen und nach vorne beugen, wenn ich mich aufrecht setze, kann ich mich nicht anlehnen. Mir fällt auf, dass die Melodie beim Text »Komm in unsre stolze Welt« nach unten geht, während sie sich bei »Wende Hass und Feindessinn«  nach oben bewegt.

Der Text stammt von dem Arzt Hans von Lehndorff, der es 1968 dichtete. In dieser Zeit er­schienen auch seine Tagebücher, die über seine Erlebnisse im Dritten Reich berichten. Zu­sätz­lich hat wohl auch der Vietnamkrieg Lehndorff beschäftigt. Das Lied beginnt in jeder Strophe mit einem sehnsuchtsvollen »Komm in unsre…« und dann zieht sich der Kreis im­mer enger, von der ersten bis zur fünften Strophe: »Welt, Land, Stadt, Haus, Herz«. Es ist die Frage, ob man nicht immer das ganze Lied singen müsste? Diese Frage würde das Lied an unser aktuelles Singen stellen oder ist es begründet, dass Gott nur bis in unsere Stadt kommen soll?

Schlenker nimmt kongenial diesen Text auf. Die Melodie ist ziemlich konstruiert, was kognitiv total überzeugend, gesanglich aber schwierig und durchaus eher herb ist. Zwei Stollen sind als Sequenz komponiert, der zweite einen Ton höher, was die Dringlichkeit steigert. Passen tut dies hauptsächlich in der ersten Strophe! In allen Strophen ist sehr überzeugend, wie sich der Anfang der Melodie nach unten entwickelt und dort die Orte benannt sind, in die Gott kommen soll. Die beiden Zeilen des Abgesangs sind dann aufwärts gerichtet, allerdings nicht mit einer Sexte Umfang, sondern nur mit einer Terz. Diese Kehre passt wieder ideal bei der ersten Strophe »Wende Hass…«

Die Stollen sind im Kreuzreim und der Abgesang im Paarreim gedichtet. Versmaß ist ein Trochäus.

Die Melodie war weder anregend noch beruhigend und verbreitete ein Empfinden, das etwas traurig war. Die zweite Strophe ist dann schon vertrauter und die Orgel spielt die Melodie mit einem Zungenregister, sodass wir sie gut hören und uns etwas an sie hängen können. Die herben Klänge, die durch gespannte Akkorde erklingen, nehmen den Text auf. Auch hier lasse ich meine Blicke wieder schweifen und versuche zu sehen, wie andere mitsingen. Alle schauen in die Noten, ich sehe auch einige, die nicht mitsingen. Einem Ehepaar hat dieses Lied besonders gut gefallen, sie kannten diese Melodie auch schon und sie hat sie sehr bewegt. Doch scheint diese modernere Melodie eher ein individuelles Geschehen zu sein, denn alle Gemeinschaftsaussagen sind niedrig.

Bei der dritten Strophe spielt die Orgel plötzlich viel leiser. Das passt zur »lauten Stadt«, von der der Text singt. Nun hört man den Gemeindegesang zwar etwas besser, aber er wirkt auch leiser und unsicherer. Die Gemeinde singt nicht gut zusammen. Besonders nach den punktierten Halben sind wir nicht zusammen.

Die Melodie betont das »Komm«, weil hier die längste Note ist, die dann zum rhythmi­schen Muster wird. Viermal erklingt eine punktiert Halbe. Dadurch werden Kernworte betont, z. B. Str. 1: »Komm, Überwinde, Hass, Weg.« Diese Betonungen legen eine bestimmte Spur für die Interpretation. Wenn man z. B. die Melodie von »Meinen Jesum lass ich nicht« für diesen Text nimmt, werden andere, nämlich folgende Worte betont: »unsre, Liebe (über-)winde, nicht, Feindes-, Weg.« Für eine Gemeinde ist diese punktierte Halbe ein Problem, weil unklar ist, wann es genau weitergeht. Das gilt besonders für die erste Note, wo das Tempo noch unklar ist. Harmonisch wirkt das Lied nicht sehr eingängig, weil die Sequenz des Stollens einen Ton höher und damit in einer Art Doppeldominante ist.

Der Klang der Orgel ist eher herb, nimmt aber darin Text und Melodie sehr gut auf. Die Orgel hat sehr stimmungsvoll begleitet, denn Lied und Begleitung passten gut zusammen und es wirkte trotzdem wie ein Choral. Insgesamt ist die Bewertung dieses Liedes eher verhalten und ruft eine mittlere Zufriedenheit hervor.

Am Ende des Liedes geht es wie ein Aufatmen durch die Gemeinde. Viele blicken und richten sich auf.

 

Soziale Funktion

Wie ist die gefühlte Zusammengehörigkeit, fühlen sich die Singenden einsam oder zugehörig?

          26 Fragebögen

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

einsam

11,5

15,4

34,6

7,7

 

zugehörig

Interpretation der Skala:      

Niemand hat den Wert 5 angekreuzt. Ungefähr ein Drittel ist auf dem Mittelwert. Einige haben den Wert 1 und 2 gewählt. Damit ist ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht erkennbar.

Befragung der Geschichte, ist etwas zu entdecken, dass auf einen Prozess der wachsenden oder abnehmenden Gemeinschaft hinweist?

Obwohl ich das Lied gut kenne und auch andere in den Interviews erzählen, dass sie das Lied kennen und mögen, ist hier kein Gefühl der Zugehörigkeit untereinander.

Zugehörig: a) Aussagen zum Lied; b) Aussagen zu den anderen Singenden; c) zu Gott.

a) Aufgrund meiner Biografie und meiner ersten musikalischen Ausbildung bei Manfred Schlenker, dem Komponisten dieses Liedes, fühle ich mich dem Lied zugehörig. Es ist auch in Text und Melodie interessant gestaltet.

b) Ich versuche so zu singen, dass andere einstimmen, aber ein wirkliches Gemeinschaftsgefühl ist nicht zu erkennen.

c) Obwohl jede Strophe mit der Anapher »Komm in unsre« beginnt und damit um das Kommen Gottes bittet, ist dies nicht zu erleben.

Zugehörigkeit:

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

zum Lied

2

zur Gruppe

1

zu Gott

1

 

»Solo- – Gruppen-Feeling« – Vergleich mit »einsam – zugehörig«

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

Solo-Feeling

11,5

23,1

26,9

15,4

 

Gruppen-Feeling

 

Die Werte für das Gruppen-Feeling sind ähnlich schwach, im Median auf dem Wert 3, also ebenso wie »zugehörig«.

Welche körperlichen oder rhythmischen Aktivitäten drücken Gemeinschaft aus?

Keine. Die Singenden sitzen unbeweglich und das Lied ist nicht rhythmisch. Die punktierten Halben am Anfang der Zeilen werden nicht gut zusammen gesungen.

Welche klanglichen Aspekte lassen auf ein Gemeinschaftsgefühl schließen?

Keine.

 

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

Körperlichkeit

1

Rhythmus

1

Klang

1

 

Psychische Funktion

Wie ist das Befinden der Singenden?

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

unangenehm

3,8

26,9

30,8

23,1

 

angenehm

unzufrieden

3,8

26,9

19,2

23,1

 

zufrieden

nicht gefallen

7,7

19,2

19,2

26,9

19,2

gefallen

 Interpretation:

Das Lied hinterlässt gemischte Gefühle, denn jeweils die Werte 2, 3 und 4 sind ähnlich hoch gewichtet. Bei dem Item »gefallen« ist sogar zusätzlich der Wert 5 ähnlich gewichtet. Daran wird deutlich, dass dieses Lied unterschiedlich empfunden wurde oder die Skalen nicht auf das Lied passten.

Welche Emotionen kommen in der Geschichte vor?

a) die der Musik zugeschrieben werden:

Es sind herbe und harmonisch gespannte Klänge, aber Musik und Text passen gut zusammen.

b) die erlebt werden:

Das Erleben wurde behindert, weil das Lied nicht so bekannt war. Obwohl ja in den Interviews einige sagten, dass sie das Lied kennen.

Von welchem individuellen Nutzen des Singens wird berichtet?

Hier hätte ein intellektueller Zugang geschaffen werden müssen. Es hätte verstanden werden sollen, dass die Kreise, in die Gott eingeladen wird mit »Komm« immer enger gezogen werden, oder dass die Melodie sich erst von oben nach unten richtet und dann umkehrt, jeweils in sequenziellen Wiederholungen.

 

Ästhetische Funktion

Wie waren die Singenden in das Singen eingebunden, waren sie emotional berührt?

 

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

nicht berührt

3,8

11,5

38,5

26,9

3,8

überwältigt

 

Diese Skala zeigt fast eine ideale Normalverteilung. Ein leichtes Übergewicht ist auf der rechten Seite. Die Singenden waren kaum berührt von diesem Singen. Das passt zu den Ergebnissen für dieses Lied.

In begrifflicher Anlehnung an Christopher Wallbaums Aufnahme von Martin Seels drei ästhetischen Praxen:

a) Korresponsiv ästhetische Singpraxis: wie wird ausgedrückt, dass die eigenen Vorlieben bestätigt werden?

Das Lied war einigen bekannt, doch der herbe Klang und die ungewohnte Harmonik wird kaum den Musikgeschmack bestätigt haben. Dieser Zugang wird nur etwas und nur bei einigen vorhanden gewesen sein.

Wie ist das Wohlbefinden thematisiert?

Das Wohlbefinden ist in den Items nicht zu erkennen.

Verweis auf Emotionen:

Die Emotionen sind eher verhalten und nicht zu erleben gewesen.

b) Bloß sinnlich-sinnabgewandte ästhetische Singpraxis: Welche Wahrnehmung mit unseren Sinnen wird erkennbar?

Die Singenden singen den Text und sitzen unbeweglich da, sodass dieser Zugang wohl nicht vorhanden war.

Welche körperlichen Aktivitäten sind zu beobachten, die die Einbindung der Singenden ausdrücken, ohne gleich Bedeutungen zuzuschreiben?

Keine. Die Einbindung der Singenden war nicht zu erkennen.

c) Imaginativ ästhetische Singpraxis: Welche »Störungen« des selbstbezüglichen Wohlbefindens sind zu entdecken?

Da das Lied in einer herben Harmonik war, weil der Text die Unruhe unserer Welt thematisierte, wäre dieser ästhetische Zugang sinnvoll gewesen. Er wurde aber nicht von den Leitenden eingeführt.

Welche neuen Erfahrungen werden formuliert?

Keine.

Wird den neuen Erfahrungen Bedeutung zugeschrieben? Wenn ja, welche?

Nein, doch in der Liedanalyse sind einige Aspekte erkannt worden, die neue Erfahrungen hätten vermitteln können.

Ästhetische Praxis

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

a) korresponsiv

1

b) sinnabgewandt

1

c) imaginativ

1

 

Kommunikative Funktion

Welche kommunikativen Verbindungen sind zwischen den Singenden zu sehen?

Nicht, da alle mit dem richtigen Singen zu tun haben.

Welche kommunikativen Verbindungen sind zwischen den Leitenden und den Singenden zu sehen?

Das Lied war ohne Anleitung.

Welche kommunikativen Verbindungen sind zwischen den Singenden und einer übermenschlichen Macht zu sehen?

Das »Komm« am Anfang jeder Strophe fiel mir auf, doch dieser Bittruf verhallte.

Welche kulturellen Codes werden verwendet?

Es ist ein Lied der »klassischen Moderne«. Die Harmonik ist gespannt, die Melodie ist klug konstruiert und beides ist auf Verstehen angelegt.

 

Religiös-transzendierende Funktion

Analyse des Kontextes – welche religiösen Rahmungen sind zu erkennen?

Die Kirche ist hell und freundlich. Es ist sehr angenehm dort. Sie bietet einen sehr religiösen Rahmen, der durch den Gottesdienst noch befestigt wird. 

Adjektiv

1

2

3

4

5

Adjektiv

nicht geborgen

3,8

42,3

19,2

15,4

 

geborgen

 Interpretation – ist hier etwas von Geborgenheit bei Gott erkennbar?

Fast die Hälfte der Singenden hat den Wert 2 angekreuzt. Sie fühlten sich eher nicht geborgen und somit war auch die religiöse Dimension sehr gering.

War dieses Singen »really worshipping«?

Nein.

War dies Singen »erfüllendes Singen«?

Auch nicht direkt, weil das Lied zu unbekannt war.

Religiöse Atmosphäre

1 = schwach bis gar nicht; 2 = mittel; 3 = stark

really worshipping

1

erfüllendes Singen

1

 Falls es angeleitetes Singen war, welche Hinweise geben die Leitenden zur religiösen Ebene – emotional, textlich und vom Kontext her? 

Keine Anleitung.

Was für Aussagen sind in den Interviews (zu diesem Lied) zu finden?

Einige betonen, dass sie das Lied kennen und es ihnen gefallen hat. Der Organist hat sehr entsprechend dem Lied und dem Text begleitet.

 

26 Fragebögen

 

Anzahl

Quartile

Ratingskala, Angaben in Prozent

Gültig

Fehlend

25

50

75

1

2

3

4

5

beruhigend-anregend

22

4, 15,4%

2

3

4

 

23,1

38,5

11,5

11,5

leiser-lauter Klang

19

7, 26,9%

2

3

4

 

19,2

26,9

23,1

3,8

einsam-zugehörig

18

8, 30,8%

2

3

3

11,5

15,4

34,6

7,7

 

unangenehm-angenehm

22

4, 15,4%

2

3

4

3,8

26,9

30,8

23,1

 

unzufrieden-zufrieden

19

7, 26,9%

2

3

4

3,8

26,9

19,2

23,1

 

nicht gefallen-gefallen

24

2, 7,7%

2

3,5

4

7,7

19,2

19,2

26,9

19,2

nicht berührt-überwältigt

22

4, 15,4%

3

3

4

3,8

11,5

38,5

26,9

3,8

nicht geborgen-geborgen

21

5, 19,2%

2

2

3

3,8

42,3

19,2

15,4

 

trauriges-fröhliches Empfinden

20

6, 23,1%

2

3

3,75

7,7

23,1

26,9

15,4

3,8

weicher-harter Klang

19

7, 26,9%

2

3

4

3,8

15,4

26,9

19,2

7,7

Solo-Gruppenfeeling

20

6, 23,1%

2

3

3

11,5

23,1

26,9

15,4

 

Angaben der Fragebögen für »Komm in unsre stolze Welt«, Quartil 50 = Median.

Grüne Markierung = hohe/höchste Gewichtung der Skala;

gelbe Markierung = niedrige Gewichtung < 10%.

 

Im Fragebogen sind zwei Auffälligkeiten: einmal fallen die hohen Gewichtungen auf dem Wert drei auf und dann sind bei vielen Variablen drei hochgewichtete Felder nebeneinander. Die Interpretation lautet: bei diesem Lied wurden keine Emotionen beim Singen angeregt. Deshalb ist es wichtig, dieses Lied zu erwähnen, denn die kognitive Dimension des Singens soll nicht vernachlässigt werden. Im Zentrum der »Erlebnisorientierten Liedanalyse« steht die emotionale und körperliche Wahrnehmung, die in der evangelischen Kirche etwas verdrängt war, doch wäre das Singen verarmt, wenn das Verstehen der Lieder in Melodie und Text nicht mehr vorkämen. Die Melodie von Manfred Schlenker zu »Komm in unsre stolze Welt« ist nach kognitiven Ideen konstruiert. Sie ist in zwei Sequenzen zu unterteilen, die ersten beiden Zeilen werden einen Ton höher, real wiederholt, während die Zeilen fünf und sechs eine tonale Sequenz darstellen. Am Anfang steht ein Motiv, dass ein Krebs des fünften Psalmtones ist. Schlenker wollte damit das »Gloria patri«, was ein Lobpreis des dreieinigen Gottes ist, umkehren, weil jede Strophe mit dem Ruf an Gott einsetzt, zu uns zu kommen: Komm. Dieses Wort wird von dem Textdichter Hans von Lehndorff als adventliche Bitte bezeichnet. Die Strophen rufen nach Gottes Kommen und ziehen die Kreise immer enger, von der »stolzen Welt«, über das »reiche Land«, die »laute Stadt«, das »feste Haus« bis zum »dunklen Herz«. Wenn dies der Gemeinde in einer knappen Einführung (von einem Satz) erklärt würde, könnte ein verstehendes Singen – Melodie und Text – einsetzen, was dann auch das Erleben beeinflussen würde.

 

Manfred Schlenker ist hier zu sehen, der die Melodie komponierte und bei dem ich die Kirchenmusik lernte.

4. Begeisterung durch Singen

Von 27 Liedern lagen Fragebögen vor, die, wie die beiden Beispiele »Amazing Grace« und »Komm in unsre stolze Welt« aussahen. Um die Frage zu klären, ob einige Singende beim Singen christlicher Lieder ähnliche oder ganz andere Emotionen entwickeln, wurde über die Variablen eine Clusteranalyse gerechnet. Ziel dieses multivariaten Verfahrens ist es, Gruppen mit ähnlichen Bewertungen zu bilden, die sich maximal von anderen Gruppen unterscheiden. Fünf Cluster wurden errechnet. Die charakteristischen Merkmale der einzelnen Cluster werden im Vergleich der Mittelwerte – zwischen allen Befragten und den Befragten eines Clusters – ermittelt.

 

Ward Method

beruhigend – anregend

nicht berührt – überwältigt

trauriges Empfinden –fröhliches Empfinden

harter Klang – weicher Klang

Solo- –Gruppen­Feeling

unangenehm – angenehm

1

4,42

3,96

4,44

2,55

4,74

4,63

2

4,10

3,49

4,24

2,90

3,06

4,37

3

1,81

4,15

3,72

1,79

4,21

4,65

4

3,12

2,51

2,78

3,29

2,97

2,70

5

3,55

3,70

4,02

2,46

4,30

1,91

Insgesamt

3,53

3,76

4,01

2,49

4,18

4,11

                          Mittelwerte der einbezogenen Items und ihre Gewichtung in jedem Cluster.

Grün = deutlich erhöhter Wert (ca. 0,8); Gelb = erhöhter Wert (ca. 0,4) gegenüber dem Ø.

Rot = deutlich niedriger Wert (ca. - 0,8); Rosa = niedriger Wert (ca. - 0,4) gegenüber dem Ø.

 

 Die folgende Tabelle interpretiert die Mittelwerte und findet darin inhaltlich passende Bezeichnung für die Cluster.

 

Cluster

Name

Beschreibung

1

anregend-fröhliches Singen

Die Singenden fühlten sich durch das Singen angeregt. Es war ein fröhliches Singen und auch das Erleben der Gemeinschaft war sehr angenehm. Die Werte dieser Items schwanken um einen Mittelwert von 4,5 auf einer Skala von 1-5. Das Erleben ist insgesamt sehr positiv.

2

gemeinschaftsloses Singen

Das Singen wurde etwas anregend erlebt, aber das Gefühl für die Gruppe und damit für die anderen Singenden war im Vergleich mit den anderen Clustern gering. Der Mittelwert ist bei 3,06 (Gesamtdurchschnitt 4,18). Die Skala ging von 1-5, sodass 3 genau in der Mitte ist. Dieser Cluster ist interessant, weil beide Items für den Faktor »Gemeinschaftsgefühl« eine relativ schiefe Verteilung haben. Sehr viele haben die Werte 4 oder 5 angekreuzt. So fällt in dieser Gruppe auf, dass alle Items in der Nähe des jeweiligen Mittelwertes liegen, aber »Solo-Feeling – Gruppen-Feeling« signifikant niedriger ist. Der Mittelwert 3,06 kann nicht als einsames oder solistisches oder vereinzeltes Erleben interpretiert werden. Dafür müsste der Wert deutlich unter 3 liegen. Es fehlt, im Gegensatz zu den anderen Clustern, das Erleben der Gemeinschaft.

3

beruhigend- überwältigendes Singen

Dieser Cluster fällt auf, weil zwei Items extrem niedrig sind, sie bilden die niedrigsten Mittelwerte von allen Items. Doch zeigen diese niedrigen Werte nichts Negatives an: Das Singen war beruhigend und der Klang war weich. Die Singenden waren von dem Erlebten überwältigt. Damit war das Erleben insgesamt positiv.

4

misslingendes Singen

Singen wird häufig als ein positives Erleben beschrieben. Gabrielsson konnte in seiner Studie über »Strong Experiences with Music« (Alf Gabrielsson: Strong Experiences with Music. Music is much more than just music, Oxford 2011, 387) nur bei 23% der Teilnehmer negative Gefühle finden. Dabei waren es nicht nur Erzählungen über das Singen, sondern über jegliche Art und Wahrneh­mung von Musik. Vermutlich ist der Anteil an negativen Gefühlen beim aktiven Singen noch etwas geringer. In diesem Cluster werden nun die Singenden zusammengefasst, die einige Lieder als misslungen empfunden haben. Sie waren nicht berührt, d. h. das Singen konnte sie nicht einbin­den, sie hatten ein etwas trauriges Empfinden, der Klang wirkte hart, sie fühlten die Gruppe kaum und das Singen war etwas unangenehm.

5

unangenehmes Singen

Alle Items der Clusteranalyse sind bei diesem Cluster fast exakt im Gesamtdurchschnitt. Nur »unangenehm – angenehm« fällt deutlich niedriger aus. Das Singen wurde als unangenehm empfunden.

 

Noch ein letzter statistischer Schritt ist notwendig. Jede und jeder Singende ist nun mit dem konkreten Lied in einen Cluster eingeordnet. Indem eine Kreuztabelle zwischen den 27 Liedern und den fünf Clustern gebildet wird, ist es möglich, zu zeigen, ob bestimmte Lieder von vielen Singenden im gleichen Cluster erlebt wurden.

 

Lied

1

anregend-fröhliches

2

gemein-schafts­loses

3

beruhigend-überwälti­gendes

4

 

misslin­gendes

5

unange­nehmes

Gesamt

S    I    N    G    E    N

 

 

1: Befiehl du deine Wege

1

1

4  44,4%

3  33,3%

0

9

2: Vom Himmel hoch

17,4%

17,4%

0

13 56,5%

2

23

3: Korn, das in die Erde

5  41,7%

1

5  41,7%

1

0

12

4: Nun danket all

73 44,2%

16 9,7%

31 18,8%

19 11,5%

26 15,8%

165

5: Die güldene Sonne

83 52,5%

27 17,1%

16 10,1%

11 7,0%

21 13,3%

158

6: Jauchzt, alle Lande

7 50,0%

3 21,4%

1

2

1

14

7: Wohl denen, die da wandeln

6 85,7%

0

0

0

1

7

8: Wir wollen alle fröhlich

17 68%

1

4 16%

1

2

25

9: Auf, Seele, auf und säume nicht 

13 59,1%

2

0

2

5 22,7%

22

10: Gen Himmel aufgefahren ist

11 84,6%

0

0

2 15,4%

0

13

11: Liebster Jesu, wir sind hier

6 23,1%

0

7 26,9%

6 23,1%

7 26,9%

26

12: Komm in unsre stolze Welt

0

1

3 16,7%

12 66,7%

2

18

13: Wir glauben Gott

2

1

5 25,0%

9 45,0%

3

20

14: Kommt her, ihr seid geladen

1

0

7 43,8%

6 37,5%

2

16

15: Ausgang und Eingang

1

0

3 42,9%

2 28,6%

1

7

16: Amazing Grace

4

2

16 69,6%

0

1

23

17: Loved 1

24 24,0%

5

61 61,0%

3

7

100

18: Gospel-Medley

18 32,7%

9 16,4%

3

21 38,2%

4

55

19: We are changing the World 1

28 56%

2

14 28,0%

2

4

50

20: Now 1

48 52,7%

14 15,4%

12 13,2%

8

9 9,9%

91

21: Souled Out 1

57 67,9%

8 9,5%

2

6

11 13,1%

84

22: This is the Day

36 57,1%

8 12,7%

3

11 17,5%

5

63

23: Now 2

50 64,1%

7

14 17,9%

2

5

78

24: Lord, prepare me

28 42,4%

10 15,2%

7

18 27,3%

3

66

25: We are changing the World 2

72 60,0%

16 13,3%

21 17,5%

4

7

120

26: Loved 2

22 13,5%

10

114 69,9%

4

13

163

27: Souled Out 2

44 52,4%

20 23,8%

3

10

7

84

 

Gesamt

661 43,7%

168 11,1%

356 23,6%

178 11,8%

149 9,8%

1512

                                               Kreuztabelle zwischen gesungenen Liedern und Clustern.

Grün ≥ 50%; gelb ≥ 30%

 

                 

 Im Cluster 1 »anregend-fröhliches Singen« sind 661 Singende (über 40% aller Befragten) und 13 Lieder mit über 50% der jeweiligen Lieder eingeordnet.

Im Cluster 2 »gemeinschaftsloses Singen« ist eine kleine Gruppe versammelt von 168 (11,1%) Singenden. Sie hatten kein Gemeinschaftserleben beim Singen. Allerdings ist kein Lied mit mehr als 25% der jeweils Singenden eingeordnet.

Der Cluster 3 »beruhigendes-überwältigendes Singen« wird von 356 Singenden (23,6%) gebildet. Es gibt einige Lieder, die hier stark vertreten sind, z.B. »Amazing Grace« mit fast 70%.

Die Singenden, die ein »misslingendes Singen« erlebten, sind im Cluster 4 versammelt. Es ist überraschend, dass das gemeinschaftliche Singen insgesamt sehr positiv beschrieben wird, aber trotzdem einige Lieder als misslungen erlebt wurden. In diesen Cluster von 178 Singenden (11,8%) gehört das Lied »Komm in unsre stolze Welt« mit 66,7% der Singenden.

Im Cluster 5 »unangenehmes Singen« sind nur 149 Singende (9,8%) eingeordnet. Aus wahrscheinlich individuellen Wertungen, war das Singen von einigen Liedern für diese Einzelnen unangenehm. Kein Lied gehört mit mehr als 27% der Singenden in diese Gruppe.

Die nun folgenden allgemeiner gefassten Merkmale des Singens christlicher Lieder orientieren sich an den Clustern, die durch die Auswertung der Fragebögen entstanden.

 

4.1 Merkmale des anregend-fröhlichen Singens

Um verbindende Merkmale für das anregend-fröhliche Singen zu finden, wurden die Lieder, die in diesem Cluster stark vertreten sind miteinander verglichen.

- Die Videos zeigen, dass bei den anregend-fröhlichen Liedern viele Singbegeisterte versammelt sind. Die Räume, Kirchen und Veranstaltungshallen, in denen gesungen wurde, sind dicht besetzt und zwischen den Singenden bleiben keine großen Lücken.

- Das Singen in einer großen Gruppe Gleichgesinnter führt zu einer (relativ) fröhlichen Stimmung. Offenbar vertreibt Gemeinschaft Traurigkeit oder melancholische Stimmung.

- Alle Lieder, die anregend-fröhlich wirkten, wurden angeleitet. Angeleitetes Singen bedeutet, dass eine kommunikative Situation entsteht und dass emotionales, kognitives und praktisches Erleben durch Sprache, Handzeichen und Vorsingen beeinflusst werden können. Dies ist in den Videos zu beobachten.

- Die Stimmung ist relativ fröhlich. Es wird während des Singens dieser Lieder, wie die Videos zeigen und die Interviews erzählen, gelacht.

- Körperlich sind die Singenden relativ aktiv. Bei den Gospelsongs stehen sie und klatschen, tanzen und bewegen sich im Rhythmus. Aber auch bei den eingeordneten Chorälen des Workshops wurden vier von sechs mit körperlicher Aktivität gesungen, vom einfachen Stehen über Einen-Rhythmus-Stampfen und -Klatschen, Aufstehen bei bestimmten Worten bis hin zu einem Schreittanz durch die Kirche.

- Der Sound wird häufig durch einen Rhythmus beeinflusst, der entweder von einem Schlag­zeug stammt oder durch die Singenden selbst deutlich spürbar produziert wird – nur zwei der Choräle werden ohne rhythmische Aktivität und stärker auf den Klang ausgerichtet gesungen. Der Sound ist hell, positiv und drückt Zuversicht aus; vom gottesdienstlichen Singen unterscheidet er sich schon dadurch, dass keine Orgel erklingt.

- Die Texte der hier eingeordneten Choräle sind alle zuversichtlich und thematisieren positives Erleben.

 

4.2 Merkmale des gemeinschaftslosen Singens

In diesem Cluster sind die Singenden versammelt, die nur wenig Gemeinschaft während des Singens erlebten. Merkmale kontextueller oder musikalischer Art, die zu einem gemein­schaftslosen Singen führen, sind hier nicht direkt abzuleiten. Vermutlich werden zum einen immer einige Singende – und das vielleicht aus individuellen Gründen – keinen Zugang zur Gemeinschaft der Singenden finden und zum anderen geht es eher um Strategien, wie das Erleben dieses Clusters vermieden werden könnte. Folgende Aspekte, das wurde beobachtet, fördern oder behindern das Gemeinschaftserleben:

- Wenn die Singenden in zu viele Gruppen eingeteilt werden, kann das Gemeinschafts­gefühl verloren gehen. Das betrifft vielstimmige Kanons ebenso wie experimentelles Singen mit vielen einzelnen Stimmen. Mehrstimmigkeit kann wunderbare Klänge hervor­ru­fen, Cluster können den Einzelnen einbinden, weil er einen spezifischen Ton zum Klang beiträgt, aber es bleibt eine Gratwanderung. Zu hohe Komplexität führt zur Vereinzelung der Singenden, denn sie sind dann, jede und jeder für sich und darauf konzentriert, die richtigen Töne zu singen.

- Ein ähnliches Erleben kann auftreten, wenn individuelle Aktivitäten gefordert werden, z. B. wenn jede und jeder bei ihrem/seinem Lieblingswort aufstehen soll. Das bringt zwar Bewegung in die Singenden, aber es ist individuelle Bewegung, die das Gemeinschafts­erleben beeinflusst.

- Wenn hohe kognitive Anforderungen an die Singenden gestellt werden, beispielsweise musikalisch-künstlerische Singweisen oder kontrapunktische Techniken oder die Auffor­derung, dass jede und jeder nur bestimmte Töne singen soll, dann ist die Konzentration durch die gestellte Aufgabe gebunden und das Gemeinschaftsgefühl schwindet.

 

4.3 Merkmale des beruhigend-überwältigenden Singens

Das mehr oder weniger überwältigende und beruhigende Erleben während des Singens von christlichen Liedern kann durch kontextuelle und musikalische Merkmale beeinflusst werden:

- Anders als beim ersten Cluster, der anregend-fröhliches Erleben beschrieb, ist es für eine Beruhigung hilfreich, wenn sich die Singenden aktiv auf die Musik und die entstehende Stimmung einlassen. Fröhliches Mitgerissenwerden ist einfach; selbst wenn einige Singende traurig und still bleiben, können andere ausgelassen singen. Eine beruhigende Stimmung für eine Gruppe zu erzeugen ist viel sensibler, denn ein oder zwei Störenfriede können die Beruhigung verhindern. Wie bei den Merkmalen des ersten Clusters schon beschrieben, ist es in einer Gruppe schwieriger, traurig zu sein, als fröhlich.

- Deshalb ist es hilfreich, wenn das Lied bekannt ist. Die ruhige und überwältigende Wirkung wird unterstützt, wenn die Singenden nicht mit ganzer Konzentration am neuen Text oder den unbekannten Noten hängen.

- Der kulturelle Kontext, in welchem diese Lieder gesungen werden, und ebenso der Inhalt spielen eine Rolle. Beispielsweise wird »Befiehl du deine Wege« häufig auf Beerdigungen gesungen und hat eine traurige Stimmung inkorporiert. Auch das Lied »Korn, das in die Erde« wird hauptsächlich in der Passionszeit gesungen. Die Stimmungen der kulturellen Beheimatung haften an den Liedern, auch wenn sie einmal in anderen Kontexten gesungen werden. Allerdings gab es auch einige Lieder, die durch die Ausführungsweise entgegen ihrer kulturellen Prägung erlebt wurden, wie z. B. »Wohl denen, die da wandeln« in Verbindung mit dem Schreittanz. Dieser Choral würde gut in den Cluster 3 passen, es sei denn, wandeln wird mit wandern verwechselt.

- Wie beim ersten Cluster kann angeleitetes Singen die Wirkung fördern, wenn z. B. musika­lische Parameter wie Lautstärke, weicher Klang, Klangfarbe oder Tempo beeinflusst wer­den. Oder wenn kontextuelle Einflüsse Parameter hinzutreten, z. B. eine emotionale inhaltliche Einführung (sprachlich oder gesanglich), die keine Predigt sein will, sondern eine knappe, wahrhaftige Aussage zur emotional-religiösen Stimmung des Songs. Dabei klingen textliche Komponenten mit.

- Zu den sprachlichen Hinweisen gehört die Vermittlung des Bewusstseins, dass im Singen die Singenden die Welt beeinflussen.

- Für eine beruhigende Wirkung des Singens mit einem überwältigenden Potenzial ist der Klang zentral und wichtiger als der Rhythmus. So wie der Rhythmus körperliche Aktivität bis hin zum Tanz initiiert, ruft der Klang eine mystische Beruhigung hervor, wie sie in Taizégesängen erlebt werden kann.

- Musikalische Mittel für eine ruhige und überwältigende Wirkung sind lang ausgehaltene Töne, Bordunklänge, Akkorde oder Cluster, die fast zeitlos den Raum erfüllen. Dies ist in einigen Videos der vorliegenden Studie zu sehen, wenn aus dem bewegten Singen heraus unvermittelt Fermaten ausgehalten werden, z. B. bei »Amazing Grace«. Die wiegende Bewegung der Singenden kommt bei den ausgehaltenen Akkorden innerhalb weniger Sekunden zur Ruhe.

 

4.4 Merkmale des misslingenden Singens

Dieser negative Cluster ist ein bemerkenswertes Ergebnis, weil daran erkennbar wird, dass die konkrete Ausführung des Singens Einfluss auf das Erleben hat. Singen kann misslingen. Die analysierten kontextuellen und musikalischen Merkmale sollen im Folgenden Aspekte aufnehmen, die vermieden werden sollten, damit das Singen gelingt. Diese Aspekte, die während des Singens der untersuchten Lieder beobachtet wurden, haben hier durchaus eine große Nähe zu praktischen Empfehlungen für Singleiter/innen:

- Das Singen von neuen Liedern und das Singen von alten Liedern in neuartiger Ausführung sind für das Singen in evangelischen Kontexten wichtig. Wenn alle Lieder nur den ästheti­schen Mainstream unterstützen und die »imaginative ästhetische Singpraxis« nicht vor­kommt, dann ist das Ausdruck für ein verarmtes Singen von geistlichen Liedern. Doch bei neuartigen Singideen ist die Grenze zur übertriebenen Komplexität schnell erreicht. In den Gottesdiensten und Singveranstaltungen wurde beobachtete, dass wenn die Singenden überfordert werden, das Singen misslingt. Das gilt sicher auch in der anderen Richtung: Wenn das Singen zu banal ist und keinen reizvollen Klang hervorruft, ist es einfach lang­weilig. Dieses Phänomen wird in der umgekehrten U-Kurve für ästhetisches Erleben dargestellt; sowohl zu niedrige als auch zu hohe Anforderungen mindern den Singgenuss (John A. Sloboda, Patrik N. Juslin: Affektive Prozesse: Emotionale und ästhetische Aspekte musikalischen Verhaltens, in: Thomas H. Stoffer, Rolf Oerter (Hg.): Allgemeine Musikpsychologie, Göttingen 2005, 767-841, 818).

- Die Beobachtung der musikalischen Komplexität bedeutet in der Singpraxis, dass es spezifische Grenzen des Singbaren gibt, die konkret für jede Gemeinde und Gruppe erkannt und beachtet werden sollten.

- Aufgrund dieser benannten Komplexität brauchen die Singleiter/innen ein Gespür für das Gelingen des gemeinsamen Singens. Manchmal ist es notwendig, nicht alle überlegten Raffinessen durchzuführen und die eine oder andere Strophe einfach(-er) zu wiederholen.

- Problematisch sind alle Lieder, die keine einfachen und eingängigen Melodie haben.

 

5. Abschluss

Im Fazit soll aus dem Kano-Modell die Begeisterung beim Singen noch einmal anklingen. Was hat die empirische Untersuchung des kirchlich-gemeindliche Singen über das Begeisterungspotenzial des Singens herausgefunden? Das Singen in den beobachteten Gottesdienst war eher nicht von emotionaler Begeisterung geprägt. In einem Gottesdienst wurde das Singen mit Fragebögen untersucht. Diese Lieder lagen mit den Mittelwerten der Ratingskalen eher um den mittleren Wert drei. Die Lieder des Workshops »Alte Choräle neu gesungen« und die Gospelsongs zeigten ein emotionaleres Erleben. Sie riefen eine anregend-fröhliche oder beruhigend-überwältigende Stimmung hervor. Einige sehr einfache und wohlbekannte Aspekte, die das Singen beeinflussen und emotionale prägen, vielleicht sogar Begeisterung hervorrufen, konnten empirisch nachgewiesen werden:

- Es war für das körperliche und emotionale Empfinden ein Unterschied, ob sitzend oder stehend gesungen wurde.

- Ein spürbarer Rhythmus beeinflusst die körperliche Aktivität. Der Rhythmus kann durch ein Schlagzeug oder die Singenden, klatschend oder auf die Bänke klopfend, erzeugt werden und diese körperliche Aktivität initiiert ein fröhlicheres Erleben.

- Der Klang ist besonders wichtig für eine beruhigende Wirkung.

- Lieder wirken stärker, wenn sie von einer/m Singleiter*in angeleitet werden. Dadurch entsteht eine kommunikative Situation, die inhaltliche und musikalische Aspekte beeinflussen kann.

- Die Art der Begleitung ist für die emotionale Prägung des Singens von Bedeutung.

- Die Wiederholung eines Liedes, Liedrufes oder Songs im gleichen Gottesdienst intensiviert das Singen und Erleben. Die Wiederholung von musikalischen Elementen ist eine übliche Form in vielen Lieder oder Musikstücken, z.B. bei Kehrversen oder auch einzelnen Melodiezeilen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Langeweile des ewig Gleichen aufkommt.

- Lieder könnten mehrfach im Gottesdienst gesungen werden und es werden für alle oder bestimmte Gruppen neue Elemente eingeführt, z.B. im Stehen Singen, im Wechsel Singen oder rhythmische Elemente hinzufügen.

- Auswendigsingen versus Konzentration auf das Gesangbuch. Emotionen sind wahrscheinlicher, wenn ein Lied gut bekannt ist. Das singende Vorlesen eines fremden Textes minimiert körperliche und emotionale Reaktionen, weil die Konzentration auf den »richtigen« Text fokussiert ist. Das Gemeinschaftsgefühl ist beim Auswendigsingen stärker.

 

Offenbar prägen die Melodien, Klänge und Rhythmen des Erleben der Lieder viel stärker als der Text. Für das emotionale Erleben, so konnte in der Studie nachgewiesen werden, spielen starke und auffallende Emotionsworte wie »fröhlich« eine Rolle, wenn sie im Liedtitel vorkommen und beim Singen eindrucksvoll ins Bewusstsein treten. Dies konnte bei den Liedern »Wir wollen alle fröhlich sein« und »Fröhlich, fröhlich ist das Volk« nachgewiesen werden. Der Text spielt in der kognitiven Ebene eine Rolle, die auch die Erinnerungen an das Singen von Liedern umfasst. Das emotionale und begeisternde Singen in Gottesdienst ist möglich. Die Teilnehmer*innen in Gottesdiensten sind häufig motiviert, ausdrucksvoll zu singen und das, was sie singen auch zu verstehen. Das wirkliche Erleben und nicht nur das Vorspielen von traurigen oder fröhlichen Emotionen, das authentische Fühlen, sollte angeregt werden. Deshalb sind die Kirchenmusiker*innen gefordert, mit kreativen Klängen den musikalischen Glaubensausdruck zu fördern.