Erlebnisorientierte Liedanalyse

Methodenvorstellung und Beispielanalyse

von Jochen Kaiser

 

Die Vorstellung der Methode soll einerseits ihre Nähe zur Hymnologie zeigen, andererseits wissenschaftstheoretisch die Methode als Analysen einer kleinen sozialen Lebens-Welt begründen. Die Methodik nutzt dafür Ideen der lebensweltlichen Ethnografie. Im Anschluss an die Mundanphänomenologie wird das eigene subjektive Erleben des Singens und im Anschluss an die interpretative Soziologie das Erleben anderer in die Analyse einbezogen. Die kleine soziale Lebens-Welt des gottesdienstlichen Singens wird durch das subjektive Bewusstsein der Singenden sinnhaft konstituiert und gleichzeitig durch ihr aktives Singen, was eine Handlung ist, produziert.[1]

Ein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung der Analyse des Sonischen. Das Ergebnis ist doppelt: einmal eine Erzählung typischer Teilnehmer am Singen und zum anderen eine ethnomusikologische Funktionsanalyse.

Um die Erlebnisorientierte Liedanalyse weiterzuentwickeln, sollen weitere Lieder mit ihr analysiert werden, um dann in komparativer Perspektive zu Ergebnissen zu gelangen.

Nachdem die Erlebnisorientierte Liedanalyse theoretisch entfaltet wurde, wird sie exemplarisch an einem Lied Der Lärm verebbt vorgestellt. Dieses Lied wurde auf dem Hamburger Kirchentag im Mai 2013 gesungen.

 

1. Die Methode – Erlebnisorientierte Liedanalyse
1.1 Erlebnisorientierte Liedanalyse als empirische Hymnologie

Im Kern geht es bei der Erlebnisorientierten Liedanalyse um das konstitutive Einbeziehen des Singens in die Untersuchung der Lieder. Hymnologie, so schreibt Christoph Albrecht in seiner Einführung als grundlegende Begriffsbestimmung, ist die Lehre vom Kirchenlied. Weil sie es sowohl mit seiner textlichen als auch mit seiner melodischen Gestalt zu tun hat, ist sie einerseits ein Teilgebiet der theologischen Forschung, andererseits ein Stück Musikwissenschaft.[2] Direkt nach dieser Definition zeigt Albrecht, dass diese poetischen und musikalischen (zusätzlich sollten auch die theologischen aufgenommen werden) Gesichtspunkte nur wenig Auskunft darüber geben, welche Lieder von der Gemeinde gerne gesungen werden und sich so als Glaubenszeugnisse – ich würde heute neutrale formulieren und Glaubensausdruck sagen – der ästhetischen Beurteilung etwas entziehen.[3] Doch hat diese Erkenntnis auf die Forschungsmethodik der Hymnologie wenig Einfluss. In dieser Einstellung untersucht die Hymnologie historisch, theologisch, poetisch und musikwissenschaft­lich, was die Christen in ihrer zweitausendjährigen Geschichte sangen. Wie die Gläubigen in früheren Zeiten sangen wird in historischer Perspektive zurecht außer Acht gelassen, denn es ist kaum noch zu erheben. Vielleicht fänden sich einige Quellen, die narrativ über das Singen erzählen und so seltene Einblicke in Gefühle und den Klang beim Singen ermöglichen. Doch könnte man daraus keine Theorie des vergangenen Klanges entwickeln.

Die Erlebniszentrierte Analyse stellt das Singen als aktuelles Klanggeschehen und die daraus resultierenden Bedeutungen für den Einzelnen in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Damit soll die historische, klassisch-hymnologische Untersuchung nicht abgewertet werden. Doch bekommt sie nicht mehr das Hauptaugenmerk und wird hauptsächlich in komparativer Perspektive herangezogen: Welche Aspekte der theoretischen Analyse werden im Singen und in der Reflexion darüber von den Singenden wahrgenommen.

Die Erlebnisorientierte Liedanalyse folgt einer Spur, die Christa Reich[4] in vielen ihrer Artikel anlegte und die schon Johannes Block[5] aufnahm. Der Unterschied liegt darin, dass hier nicht nach der fundamentalen Bedeutung des Zusammentreffens von Wort und Ton oder der daraus resultierenden Hermeneutik auf philosophisch-theologischer Ebene gefragt wird, sondern eher eine soziologische Perspektive eingenommen wird, die ethnologische und performative Aspekte aufnimmt. Was erleben die Singenden und welche Bedeutung hat dieses Singen. Wie wird im Singen die Wirklichkeit des christlichen Glaubens konstruiert und wie ist das Singen Ausdruck dieser Glaubenswirklichkeit der Singenden.

Nun mag es überraschen, dass in der Hymnologie kaum Untersuchungen des Sin­gens von Liedern vorliegen. Vermutlich wird schnell Einigkeit darüber herrschen, dass Lieder ausschließlich entstehen, um gesungen zu werden. Doch ist Singen im­mer ein aktuelles Geschehen und die Schwierigkeit besteht darin, dass man als For­scher keinen direkten Zugriff auf ein aktuelles Geschehen hat. Die Untersuchung ist etwas Nachträgliches und unüberwindbar vom eigentlichen Ereignis getrennt.

 

1.2 Ebene der Beobachtung und der Analyse

Um den Nachteil, dass alle Untersuchung nur nachträglich auf das Erleben eingehen kann, etwas auszugleichen, nutzt die Erlebnisorientierte Liedanalyse vielfältige Zugänge zum Singen und dem Erleben beim Singen. Drei Zugänge, die im Folgenden dargestellt werden, sind zentral: a) durch teilnehmende Beobachtung bin ich beim Singen beteiligt und erlebe die Stimmung, Atmosphäre und den Klang. Davon wird in zeitlicher Nähe ein Beobachtungsprotokoll geschrieben. Dann werden b) nach dem Gottesdienst/kirchlichen Singen mit den Teilnehmer/innen Interviews oder Gespräche geführt. So erhalte ich sehr nah am eigentlichen Erleben Rückmeldungen über das Erleben, die Gefühle, die Atmosphäre und die Stimmung von anderen. Schließlich c) wird das Singen/der Gottesdienst auf Video aufgenommen. Dadurch ist es möglich, das aktuelle Geschehen in gewissen Grenzen festzuhalten. So können gewisse Grunddaten immer wieder abgerufen werden, die Singenden können (zumindest, wenn sie auf dem Video sind) mit ihren eigenen Aussagen verglichen werden, das Sonische kann analysiert und die (bewegte) Bildebene kann beispielsweise auf die Körperbewegungen und Mimik hin untersucht werden.

 

1.2.1 Eigenes Erleben (Teilnehmende Beobachtung)

Die Notizen des Beobachtungsprotokolles sind für das aktuelle Erleben wichtig. Sie zeichnen das subjektive Erleben, die Gedanken, Gefühle, die Stimmung und die Atmosphäre des Forschers direkt nach dem Erlebten auf. Dieser Daten sind von großem Wert, auch wenn sie subjektiv geprägt sind. Es handelt sich um Handlungsdaten, in Unterscheidung zu den Selbstdarstellungsdaten, die man in Interviews und Gesprächen erhebt.

 

1.2.2 Videoanalyse

Während des Gottesdienstes/kirchlichen Singens läuft eine Kamera mit, die unauffällig einen Ausschnitt der Gemeinde filmt. Im diesem Video wird dann die Bildebene untersucht. War bei der teilnehmenden Beobachtung und dem daraus resultierenden Beobachtungsprotokoll das eigenleibliche Spüren im Zentrum, geht es jetzt um eine deskriptive Aufnahme der anderen Singenden. Im Hintergrund steht die Videoanalyse mit der Dokumentarischen Methode,[6] die hier in abgewandelter Form aufgenommen wird. Anders als Bohnsack werden nicht nur Einzelbilder, sondern gerade auch bewegte Sequenzen beschrieben. Das Besondere der Sing-Videos gegenüber anderen Videos ist, dass nicht sehr viel passiert. Zu beobachten ist also nicht die Bildkomposition, sondern sind die Bewegungen und Körperhaltungen, die Gesten und die Mimik der Singenden. Die Gesamtbewegung kann aufgenommen werden, ebenso ist die Bewegung Einzelner wichtig.

 

1.2.3 Analyse des Sonischen

Ein gewichtiger Arbeitsschritt ist die Untersuchung des Sonischen. Damit wird eine Nähe zur Ethnomusikologie angedeutet, denn sie hat als Ziel die Erforschung der sonischen Ordnung (in interkulturellen Vergleichen).[7] Zuerst wird anhand des Beobachtungsprotokolles und des Videos eine subjektive, emotionale Soundgeschichte entworfen. Die Analyse des Sonischen ist für die Erlebnisorientierte Liedanalyse zentral und enthält einige Komponenten, die neu entwickelt werden müssen. Denn die klassische Videoanalyse untersucht nach der Bildebene den gesprochenen Text. Doch bei gesungenen Liedern ist dies kein Schritt, der ein Video bräuchte, denn Text und Ton sind vorgegeben und können unabhängig vom Singen untersucht werden. Es geht hier also nicht um die Frage Was wird gesungen, sondern um das Wie des Singens.

Indem hier Wert auf das Sonische gelegt wird, ist das hörende Subjekt an prominenter Stelle. Die Rezeptionsästhetik tritt in den Blick. Anders als die Werkästhetik, die anhand musikimmanenter objektiver Kriterien den Wert von Musik bestimmt und der Produktionsästhetik, die besonderes Gewicht in der Popularmusik und ihrer Produktion im Studio bekommt, ist die Rezeptionsästhetik an der Aufführung, also am Singen interessiert. Sie ist weder vom hörenden Subjekt noch von Zeit und Ort des Erklingens von Musik zu trennen, sondern hat diese drei Parameter: Subjekt, Zeit und Ort als notwendige Voraussetzung.

Durch Zeit und Ort ist die Untersuchung des Sonischen an die Aufführung, an leibliche Ko-Präsenz und an die Flüchtigkeit gebunden. Durch das Subjekt ist die Wahrnehmung individuell und muss die Lebenssituation des Wahrnehmenden einbeziehen. Neben den musikalischen Parametern von Harmonik, Melodie, Instrumente, Arrangement und Stilkunde werden für das Sonische auch Groove und Rhythmus, Stimmlichkeit und Körperlichkeit sowie Räumlichkeit und Raumordnung aufgenommen. Obwohl das Sonische hauptsächlich aus der Musikpraxis populärer Musikformen stammt,[8] nutze ich das Sonische als Analysekategorie für jede Musik, eben gerade auch für klassische[9] Kirchenmusik. Ohne die musikwissenschaftliche Analyse zu vernachlässigen, sollen die neuen Ebenen zusätzlich einbezogen werden. Das geschieht in einer interdisziplinären Koppelung von Musik- und Kulturwissenschaft.

Das Sonische ist ein vielschichtiger Begriff, der klangliche Parameter, z.B. Timbre der Instrumente und Stimmen, Lautstärke, Farbigkeit des Klanges, ebenso einschließt wie emotionale Bedeutungen. Damit zeigt sich das Sonische als ein ästhetisches Kriterium, welches soziale und kulturelle Verhältnisse wiedererkennbar ausdrückt. Dies gilt auch für die Kirchenmusik. Einige Beispiele sollen dies belegen und ich beginne mit dem populären Gospelsound, der sowohl durch die Art der Songs als auch durch den Klang des Gesanges erkennbar ist. Taizégesänge haben einen wiedererkennbaren Klang, der gleichzeitig eine bestimmte meditative Stimmung hervorruft. Jugendliche, die in Taizé waren, werden durch diese Klänge automatisch an die dortige Gemeinschaft erinnert. Ebenso ist die klassische Kirchenmusik durch ihren Sound erkennbar. Beispielsweise klingen die Kirchenlieder in einem bestimmten Sound. Die Orgeln tragen dazu bei und sind, zumindest bei Kennern, durch ihren unterschiedlichen Sound zu erkennen. So ist die Klanggestalt einer Silbermann-Orgel sehr einfach von einem spätromantischen Werk der Firma Sauer zu unterscheiden. Die typisch französischen Zungenstimmen sind nicht mit dem Sound der Weichen romantischen (durchschlagenden) Zungen deutscher Provenienz zu verwechseln. Schließlich haben die Kirchenräume ihren spezifischen Klang, der die gotische Kathedrale vom Funktionsbau der 1960er Jahre unterscheidet.

Als Ergebnis dieses Arbeitsschrittes steht eine subjektive Geschichte, die die Wirkung des Gesungenen auf den Singenden (Forscher) in emotional dichter Weise[10] beschreibt.

Nun wird die Bildebene des Videos wieder aufgenommen und ein Vergleich der Videoanalyse und der Soundgeschichtevorgenommen. War die Soundgeschichte noch absolut subjektiv, wird in Aufnahme des Videos eine vorsichtige Ausweitung auf andere Singende versucht.

Der weitere Weg der Analyse soll versuchen die subjektiven Aussagen so zu verallgemeinern, dass Vergleiche möglich werden. In komparativer Perspektive sollen verschiedene Lieder und Singende analysiert werden. Deshalb wird die Soundgeschichte als Klanganalyse in eine Tabelle eingetragen. Es werden die Charakteristika der Klänge und ebenso die Kontexte, die auf dem Video zu sehen sind, zusammenfasst. Dazu gehören auch die Aufnahme der genutzten Klangerzeuger wie Instrumente, menschliche Stimmen (Männer, Frauen, Kinder etc.) u.a., um so den Kirchensound näher beschreiben zu können.

Ein weiterer Schritt ist die Bündelung des Sonischen in Rezeptions-Typen. Als erster Versuch werden zwei Großtypen aufgenommen: Ergotrop und Trophotrop. Ergotrop fasst das Sonische zusammen, was belebt, erregt und eine zunehmende Aktivierung hervorruft. Trophotrop sind sonischen Erlebnisse, die beruhigen, die einen erregten Zustand auflösen und eine abnehmende Aktivierung bewirken. Es wird nicht ein Lied oder eine Musik eingeordnet, sondern das individuelle Erleben des Sonischen eines Liedes. Das gleiche Klangerlebnis kann dann von unterschiedlichen Rezipient/innen unterschiedlich eingeordnet werden. Eine Vermutung voraus, aufgrund der kulturellen Prägung und der relativen Geschlossenheit der kleinen sozialen Lebens-Welt gottesdienstlichen Singens werden keine übertriebenen Differenzen im Erleben erwartet. Wahrscheinlich werden die meisten Lieder von vielen in den gleichen Großtypen eingeordnet. Einige Lieder werden auf der Grenze der beiden Typen liegen. Dies kann einmal Ausdruck eines Liedes sein, das in Tempo, Lautstärke und Emotion im mittleren Bereich liegt. Zum anderen wird die Grenze durch die konkrete (unauffällige) Performance beschritten. So sagte beispielsweise eine Frau in einem beobachteten Gottesdienst, dass ihr erst heute bei einem singend wahrgenommen Lied bewusst wurde – sie hat das Lied schon sehr oft gesungen –, wie vergnügt das Lied eigentlich ist. Vermutlich wird es zwischen den Singenden Differenzen in der Zuordnung zu den Subtypen geben.

In der Musikpsychologie werden zwei emotionale Ebenen unterschieden. Einmal sagt man über bestimmte Lieder, dass sie traurig oder fröhlich sind, ohne diese Emotion selbst zu empfinden. Zum Anderen spürt man selbst bestimmte Emotionen. Wahrscheinlich sind diese Ebenen nur analytisch zu trennen und geraten im Erleben durcheinander, beeinflussen sich gegenseitig und durchdringen sich.

 

Fragebogen um einige Klangparameter anhand des semantischen Differenzials abzufragen:

Lied: »XY«

Es geht um das konkrete Erleben des Liedes heute, um das, was Sie gerade empfinden, nicht darum, welche Gefühle das Lied in seiner Musik ausdrückt.

 

bekannt

1

2

3

4

Unbekannt

allgemeine Frage, wenn das Lied bekannt ist, könnte früheres Singen Einfluss auf die Bewertung haben

angenehm

1

2

3

4

Unangenehm

Valenzdimension des semantischen Differenzials

Leise

1

2

3

4

Laut

Potenzdimension des semantischen Differenzials

Klein

1

2

3

4

Mächtig

Potenzdimension des semantischen Differenzials

Weich

1

2

3

4

Hart

Potenzdimension des semantischen Differenzials

Ruhig

1

2

3

4

Bewegt

Aktivierungsdimension des semantischen Differenzials

Traurig

1

2

3

4

Fröhlich

Aktivierungsdimension des semantischen Differenzials

Unzufrieden

1

2

3

4

Zufrieden

Valenzdimension des semantischen Differenzials

Nicht gefallen

1

2

3

4

gefallen

Valenzdimension des semantischen Differenzials

 

Anhand dieser Tabelle des semantischen Differenzials, die sich aus der Sound-Tabelle ergibt, wird eine weitere Unterteilung der beiden Haupttypen vorgenommen. Trophotrop bedeutet, dass in dieser Tabelle aus der Dimension der Potenz eher klein und weich angekreuzt sein sollten. Aus der Dimension der Aktivierung eher ruhig und traurig. Die Dimension der Valenz kommt nicht vor, weil sie eher eine Aussage über meine momentane Beziehung zu diesem Lied aussagt und nicht in diese Typen eingeordnet werden kann. Ich kann mit beruhigender oder aktivierender Musik zufrieden oder unzufrieden sein.

1. Typ: Trophotrop

          1a. Subtyp: Trophotrop – traurig

          1b. Subtyp: Trophotrop – ruhig

          1c. Subtyp: Trophotrop – weich

          1d. Subtyp: Trophotrop – langweilig

 

2. Typ: Ergotrop

          2a. Subtyp: Ergotrop – fröhlich

          2b. Subtyp: Ergotrop – bewegt

          2c. Subtyp: Ergotrop – hart

          2c. Subtyp: Ergotrop – ärgerlich

 

1.2.4 Interview- und Gruppengesprächsanalyse

Nachdem nun das subjektive Erleben des Forschers und die Analyse des Videos mit Bild- und Klangdimension dargestellt wurde, die beobachtend die andern Singenden einbezog, folgt die Untersuchung der Interviews und Gruppengespräche. Diese Datenerhebung geschieht direkt nach dem Gottesdienst oder dem kirchlichen Singen. Ob Interviews oder Gruppengespräche geführt werden, entscheidet sich immer vor Ort. Manchmal bildet sich schnell eine kleine Gruppe und damit niemand Warten muss, beginnt ein Gruppengespräch mit allen. Manchmal kommen aber Einzelne nacheinander und so entstehen Interviews. Die Einleitung zum Gespräch drückt kurz die Forschungsperspektive aus, macht deutlich, dass die Beiträge der Erzählenden sehr notwendig sind und fordert zu detaillierten Schilderungen des Erlebten mit den positiven und negativen Gefühlen auf.

Ein besonderer Fokus der Analyse liegt dann auf den Passagen, die das zu untersuchende Lied ansprechen bzw. darauf bezogen werden können. Die Auswertung geschieht mit der Dokumentarischen Methode.

 

1.3 Kleine soziale Lebens-Welten und eine Erzählung typischer Teilnehmer/in

Der Gottesdienst wird als kleine soziale Lebens-Welt verstanden.[11] Aus der umfassenden alltäglichen Lebenswelt werden strukturierte Fragmente der Lebenswelt herausgehoben, in denen „Erfahrungen in Relation zu einem speziellen, verbindlich bereitgestellten intersubjektiven Wissensvorrat“[12] gelten. In der Pluralität der alltäglichen Lebenswelt wird die intersubjektive Verständigung immer komplexer. Doch in den kleinen sozialen Lebens-Welten gelingt es noch, dass die Beteiligten in kongruenten Relevanzsystemen handeln, denken und fühlen, sich also verstehen. Trotz der differenten Sozialisation und unterschiedlichen Welterfahrungen, überwiegt hier der pragmatische Zugang, der eher die Gemeinsamkeiten betont. Die Singenden vertrauen sich gegenseitig und werden als verlässliche Mitsänger/innen erlebt. Deutungs- und Handlungsmuster werden relativ fraglos aufgenommen und akzeptiert.[13] Diese kleine soziale Lebens-Welt des kirchlichen Singens (im Gottesdienst) ist sozial vordefiniert und intersubjektiv gültig. Sie ist aus der alltäglichen Lebenswelt herausgehoben und so von ihr zu unterscheiden. Da die Gottesdienstteilnehmer/innen freiwillig kommen, bringen sie eine große Bereitschaft mit, den Zeit-Raum Gottesdienst als Handlungs-, Wissens- und Sinnsystem zu erleben. Der Gottesdienst wird als intersubjektiv gültiger Ausschnitt der alltäglichen Lebenswelt besucht.[14] Das Wort klein in dieser Bezeichnung meint nicht kleine Räume oder wenige Mitglieder, sondern klein meint die Reduktion der Komplexität möglicher Relevanzen. Mit sozial wird angedeutet, dass die geltenden Relevanzsysteme intersubjektiv anerkannt sind und notwendig sind, damit man am Geschehen des Gottesdienstes aktiv partizipieren kann.[15]

Ohne die Forschungsmethodik hier weiter entfalten zu können, gehört sie in den Bereich der lebensweltlichen Ethnografie.[16] Zentral ist die leibliche Kopräsenz im gottesdienstlichen Singen, die den Forscher als normales Mitglied aufnimmt, auch wenn er sich selbst immer wieder vom Geschehen distanzieren muss. Diese Beobachtungs- und Empfindensdaten werden dann ergänzt durch Gespräche und Interviews sowie die Analyse des Videos. Das Ziel der Untersuchung ist es, eine Innensicht des gottesdienstlichen Singens in idealer Weise zu erfassen.[17] Die Situation wird in der folgenden Grafik dargestellt.

 

Als Ergebnis der Verbindung von Ethnografie und Phänomenologie steht die subjektive Sicht eines normalen (typischen) Teilnehmers. Diese subjektive Sicht ist wichtig, weil nur so verhindert wird, dass eine sozialwissenschaftliche fiktive Welt vom wissenschaftlichen Beobachter rekonstruiert wird. Da im Hintergrund die Idee der kongruenten Relevanzsysteme steht, ist die Erzählung typischer Teilnehmer möglich. In diese Erzählung sind eingeflossen: das Beobachtungsprotokoll, die subjektive Soundgeschichte, die Videoanalyse, die Gespräche und Interviews, das Sonische in Form einer Tabelle, eine musikologische Funktionsanalyse und die klassische Liedanalyse. Die Beschreibung des Geschehen aus der Perspektive eines typischen Teilnehmers wird aber doch etwas aufgeweicht. Hintergrund dieser Veränderung ist folgende Überlegung: die Verwendung der gleichen Relevanzsysteme bedeutet, dass die Gottesdienstteilnehmer/innen sich ohne viele Worte verstehen; bedeutet ebenso, dass die Handlungen, Worte und Lieder als Ausdruck des Glaubens verstanden werden. Verstehen meint nicht nur kognitiv, sondern umfasst Gefühl, Verstand und Handlung. Trotzdem heißt das Sich-Verstehen nicht automatisch, dass auch alles Erleben gleich ist. In einer gewissen Bandbreite wird das Erleben untereinander differieren, weil es immer mit der Sozialisation und der konkreten individuellen Lebenssituation des Einzelnen verbunden ist. Deshalb wird die eine Erzählung in einigen Bereichen in mehrere Erzählstränge aufgespalten. Dies ist m.E. immer dann notwendig, wenn von den Rezipienten unterschiedliche Wirkungen berichtet oder analysiert wurden. Darüber hinaus erzählen die unterschiedlichen Medien, die verwendet wurden, von unterschiedlichen Wirklichkeiten. Auch diesen Differenzen sollen in der Erzählung berücksichtigt werden, indem parallele Erzählstränge auftauchen.

 

Abschließend für die theoretische Methodenvorstellung werden summarisch die einzelnen Schritte der Analyse benannt. Diese müssen für jedes Lied durchgeführt werden, allerdings kann die Gewichtung unterschiedlich sein. I. Notizen des Beobachtungsprotokolles und Auswertung; II. Video – Untersuchung der Bildebene, Einzelbilder und bewegte Sequenzen (Bewegungen, Körperhaltungen, Mimik jeweils von ausgewählten Einzelnen); III. Subjektive, emotionale Soundgeschichte; IV. Vergleich zwischen Videoanalyse und Soundgeschichte; V. Klanganalyse in einer Tabelle; VI. Auswertung der Interviews und Gespräche; VII. Typenbeschreibung und VIII. klassisch-hymnologische Analyse.

Am Ende steht neben der Erzählung typischer Teilnehmer/innen die Ethnomusikologische Funktionsanalyse.

 

1.4 Ergebnisse anhand einer ethnomusikologische Funktionsanalyse

Um das narrative Ergebnis in der Erzählung typischer Teilnehmer/innen etwas systematischer zu fassen, wird die Untersuchung mit einer ethnomusikologischen Funktionsanalyse abgeschlossen. Schon die Aufnahme des kirchlich-gottesdienstlichen Singens als kleine soziale Lebens-Welt wollte das Singen nicht isoliert betrachten, sondern im Kontext des Erklingens. Dies trifft in gleichem Maße für die Ethnomusikologische Funktionsanalyse zu. Es geht um die Funktionen der Musik für die Gesellschaft und den Einzelnen. Die vorliegende Perspektive ist nicht die, für die gesamte (deutsche) Gesellschaft und ebenso nicht für mehrere Kulturen. Hier wird die kleine soziale Lebens-Welt des gottesdienstlichen Singens betrachtet. Deshalb werden die allgemeinen Funktionen, die Alan Merriam[18] und Artur Simon[19] herausarbeiteten auf die konkrete Situation fokussiert. Die religiös-transzendierende Funktion steht im Mittelpunkt, weil das untersuchte Singen im kirchlichen Kontext geschieht.

Merriam hat zehn Funktionen unterschieden:

„The function of emotional expression, [...] of aesthetic enjoyment, [...] of entertainment, [...] of communication, [...] of symbolic representation, [...] of physical response, [...] of enforcing conformity to social norm, [...] of validation of social institutions and religious rituals, [...] of contribution to the continuity and stability of culture, [...] of contribution to the integration of society.”[20] Simon nimmt diese Funktionen auf und fasst sie etwas anders zusammen bzw. erweitert sie: „1. die soziale, 2. die psychische, 3. die religiöse, 4. die ästhetische, 5. die magische und 6. die kommunikative Funktion.“[21]

Merriam hat keine spezifische Funktion für religiöse Bedeutungen. Bei Simon kommt sie vor, aber im vorliegenden Zusammenhang bekommt sie das größte Gewicht. Deshalb wird sie am Ende besprochen und in Anlehnung an Peter Bubmann noch unterteilt.[22] Die Funktionen sind nicht trennscharf zu unterscheiden. Sie sind nur theoretische Trennungen und im wirklichen Erleben der Musik wirken mehrere Funktionen zusammen, ohne, dass sie getrennt werden könnten. Wenn in einem Gottesdienst beispielsweise das Glaubensbekenntnis gesungen wird, dann entsteht eine (religiöse) Gemeinschaft, der einzelne kann sich gleichzeitig psychisch stabilisiert fühlen, es wird die kommunikative Funktion erfüllt, einmal, weil man den Nachbarn hört und zum anderen, weil das Glaubensbekenntnis ein präsentatives Symbol darstellt. Die Singenden sind dabei ästhetisch angesprochen, weil der Klang so schön ist oder die Orgel so eindrucksvoll spielt, das spricht dann auch die Emotion an und das Glaubensbekenntnis hat im Gottesdienst eine zentrale religiöse Funktion. So sind bei diesem Beispiellied alle Funktionen beteiligt.

1.4.1 Die soziale Funktion fragt nach dem Zusammenhalt der Gemeinschaft, der durch die Musik ausgedrückt und gestiftet wird. Einige spezifische Beschreibungen werden mit Merriam angedeutet. So gehört in diese Funktion die soziale Normierung. Gerade in der Adoleszenzphase von Jugendlichen wird ihr Protest gegen die Normen der Gesellschaft (Eltern) in Musik zum Ausdruck gebracht. Indem bei bestimmten Anlässen wie Sportereignissen die Nationalhymne gespielt wird, wird der Zusammenhalt der Gemeinschaft stabilisiert und fortgesetzt.[23] Durch Musik und besonders im Singen, geschieht Integration. Die Stabilisierung und Integration durch gemeinsames Singen kann auch nur temporär erlebt werden und wirksam sein.

1.4.2 Die psychische Funktion ist keine Entgegensetzung zur sozialen Funktion, aber konzentriert sich auf den Einzelnen. Musik drückt Gefühle des Einzelnen aus und wirkt gleichzeitig auf sie zurück. So kann Musik zur Stabilisierung der Psyche beitragen.

1.4.3 Die ästhetische Funktion macht darauf aufmerksam, dass Musik zum Genuss und zur Freude, zur Trauer und Leidbewältigung und ebenso als Unterhaltung fungieren kann.

Die ästhetische Funktion hat drei Ausrichtungen: einmal haben die musikalischen Werke eine Ästhetik (Werkästhetik), dann ist der ästhetische Genuss ein subjektives Erleben (Rezeptionsästhetik) und auch das Musizieren hat eine bestimmte ästhetische Qualität (Produktionsästhetik). Für das vorliegende Projekt ist die Rezeptionsästhetik am Wichtigsten. Beim Singen spielt aber auch die Produktionsästhetik eine Rolle. In der klassisch-hymnologischen Liedanalyse werden auch Aspekte des Werkästhetik besprochen.

1.4.4 Die kommunikative Funktion kommt dort zum Tragen, wo mehrere zusammen Musizieren oder Singen, weil das eine kommunikative Situation ist. Bei textgebundener Musik werden Botschaften noch deutlicher ausgetauscht. Es gibt auch Musikformen, die mit Vor- und Nachsingen funktionieren. Dies ist nicht nur in der Kirche oder bei Gospel der Fall, sondern auch in manchen Rockkonzerten. In dieser Funktion gehört auch die symbolische Repräsentation, die Merriam ausführlich bespricht.[24] Die symbolische Kommunikation nutzt nicht nur die diskursive, sondern auch die präsentative Form.[25]

1.4.5 Die emotionale Funktion der Musik ist für die Rezipienten von entscheidender Bedeutung. Aus diesem Grunde wurde sie hier als eigene Funktion, in Anlehnung an Merriam und anders als Simon, aufgenommen. Musik wird im Alltag als emotionales Medium genutzt. In dieser Funktion ist auch eine physische Reaktion auf die Musik eingeschlossen.

1.4.6 Die religiös-transzendierende Funktion ist die Hauptkategorie, denn die untersuchten Lieder erklingen in einem Gottesdienst oder einer kirchlichen Veranstaltung. Diese Funktion ist von religiöser Überschreitung des menschlichen und zwischenmenschlichen Erlebens geprägt. In Übernahme der drei Stufen der Transzendenz von Thomas Luckmann geht es hier um große Transzendenzen.[26] Diese meinen eine andere Wirklichkeit als die alltägliche. Der Traum oder die Ekstase, der Rausch oder die mystische Versenkung, die Hilflosigkeit bei großen Katastrophen oder das Wissen um den Tod sind Beispiele für große Transzendenzen.  Transzendenz meint bei Luckmann einen aktiven Prozess, sodass Transzendieren der bessere Begriff wäre.[27] Da es kein statischer Begriff ist, ist er auch kein Gegenbegriff zur Immanenz, sondern ein entgrenzender Prozess. Es geht um Überschreitung. Die großen Transzendenzen haben eine Nähe zum Religiösen, doch ein Traum oder das Musikerleben müssen nicht zwangsläufig religiös sein. Deshalb wird keine inhaltliche Angabe an die großen Transzendenzen geknüpft, sondern der erlebbare Prozess der Überschreitung und Entgrenzung kennzeichnet sie. Wie die großen Transzendenzen zu religiösem Erleben werden, muss vorerst noch offenblieben. Vielleicht geschieht das Religiöse durch Zuschreibung der Subjekte oder durch den religiöse Rahmen.

Die anderen Funktionen tauchen in der religiös-transzendierenden teilweise noch einmal auf. Beispielsweise ist die erlebte Gemeinschaft Teil der sozialen Funktion. Doch innerhalb der religiösen Funktion muss geklärt werden, ob es eine religiöse Gemeinschaft, eine Glaubensgemeinschaft ist. Die religiös-transzendierende Funktion wird dafür in mehrere Dimensionen unterteilt. Diese Dimensionen werden in Anschluss und leichter Veränderung an Peter Bubmanns Unterteilung vorgenommen. Auch für die Dimensionen gilt, dass sie nur eine heuristische Unterteilung sind und im Erleben verbunden und vermischt, also untrennbar sind. Es besteht eine Spannung zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, deshalb werden die Dimensionen in ihrem Schwerpunkt (nicht ausschließlich) als sozial oder individuell gekennzeichnet. Der Einzelne kann in seiner Trauer getröstet werden, was eher individuell ist. Er kann sich aber auch zu einer Gemeinschaft zugehörig erleben, was eher sozial ist.

a) Die magisch-wirksame Dimension (eher sozial)

Diese magische Dimension war in früheren Religionen sehr wichtig, weil gute Geister herbeigerufen und böse Geister vertrieben werden sollten. In der abendländischen Kultur sind die Silvesterknaller oder die Rasseln und Pfeifen im Karneval noch ferne Erinnerungen – mehr Unterhaltung als Bedeutung – an diese abergläubischen Praktiken. Doch soll in diese Dimension die konkrete Wirkung der Musik eingeordnet werden. Durch Musik wird die Stimmung der Einzelnen und der Gruppe beeinflusst. Herrmann Schmitz versteht Gefühle als im Raum ergossene Atmosphären, also als äußere Realitäten.[28] So wird die Ausweitung der magischen Dimension als Beeinflussung der gefühlten Stimmung plausibel.

b) Die ekstatisch-mystische Dimension (sowohl individuell als auch sozial)

Zwei extreme Formen religiöser Erfahrung sind zu unterscheiden: einmal die Ekstase durch Tanz und Bewegung und zweitens die mystische Versenkung. So steht einmal rhythmische und laute Musik und zum anderen leise, Klangmusik im Mittelpunkt.

c) Die integrierend-kommunikative Dimension (eher sozial)

In diese Dimension gehört besonders der gemeinschaftliche Gesang als intensive Form der erlebten Zusammengehörigkeit. Das gemeinsame Musizieren fällt auch in diese Dimension. Ebenso Tänze oder andere körperliche Bewegungen führen zu einer Gemeinschaft.

d) Die seelsorgerlich-therapeutische Dimension (eher individuell)

Musik hilft bei der Bewältigung von kontingenten Situationen, wie z.B. bei der Depression des König Sauls (1 Samuel 16). Auch Klage- oder Totenlieder therapieren klingend die Trauernden.

e) Die rhetorisch-symbolischen Dimension (sowohl individuell als auch sozial)

Die Verbindung von Sprache und Musik hat im Abendland eine lange Tradition. Die Religionen nutzen die Dimension der Musik, um ihre Botschaften emotionaler im Menschen zu verankern. Aber es geht nicht nur um Sprache, sondern um die Vermittlung von Botschaften, die eben auch symbolisch (präsentativ) ausgedrückt werden können.

f) Die ethische Dimension (eher individuell)

Die Musik wird in dieser Dimension mit gutem Verhalten, mit der Bildung des guten Menschen verbunden. Musik kann die Menschen positiv beeinflussen, sie führt zu einer Harmonie der Seele und wird sogar auf den Kosmos (Verhältnis zwischen Obertönen und den Planeten – Sphärenharmonie) übertragen.

 

2. Liedbeispiel Der Lärm verebbt

Bei einer Analyse am Erleben orientiert sein, bedeutet den Versuch, den verfliegenden Augenblick festzuhalten. Zumindest ermöglichen neue Medien, dass Sie als Lesende einen Eindruck vom Geschehen des gesungenen Liedes erhalten. Die Methodenvorstellung wird nun an dem Lied Der Lärm verebbt illustriert, das in zwei Veranstaltungen des Hamburger Kirchentages am 3. Mai 2013 gesungen wurde: einmal bei Summen – Singen – Shouten (SSS) und dann beim Offenen Singen (OffSing) am Mittag in der Oase der Halle für Kirchenmusik. Diese Klänge sind zu hören unter: http://www.musik-und-gottesdienst.de/protected/?comeFrom=http%3A%2F%2Fwww.musik-und-gottesdienst.de%2Faktuelles%2Fforschungsanliegen%2Fvideos-nur-mit-passwort%2F&

Passwort: Meißen2014

Video: Der Lärm verebbt - Video 9

 

Die beiden Veranstaltungen waren relativ ähnlich. SSS war mehr ein Demonstrieren, wie das ideale Singen im Raum der Kirche mit Liedern aus unterschiedlichen Jahrhunderten und Themen geschehen könnte. Deshalb gab es als Begleitung einen Posaunenchor, eine Band, ein kleines Orchester, einen Chor und die Orgel. Das OffSing war stärker dem einfachen Singen von beliebten oder neuen Liedern gewidmet, hier wirkte nur ein Kirchenmusiker mit (bei SSS waren es 4) und er selbst begleitete das Singen am E-Piano. SSS war durchgeplant und sollte die Vielfalt des Singens zeigen, während das OffSing eher zufällig und spontan die Lieder auswählte, die den Anwesenden gefielen.



[1] Vgl. Ronald Hitzler, Thomas S. Eberle, Phänomenologische Lebensweltanalyse, in: Uwe Flick, Ernst Kardorff, Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 20129, 109-118.

[2] Christoph Albrecht, Einführung in die Hymnologie, Berlin 19873, 7.

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. z.B. einige Artikel in: Christa Reich, Evangelium: klingendes Wort, Zur theologischen Bedeutung des Singens, Stuttgart 1997.

[5] Vgl. Johannes Block, Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie, Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers, Tübingen 2002.

[6] Ralf Bohnsack, Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode, Opladen 20112.

[7] Vgl. Artur Simon, Ethnomusikologie. Aspekte, Methoden und Ziele, Berlin 2008, 45.

[8] Vgl. zum Folgenden Susanne Binas-Preisendörfer, Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. Annäherungen an einen populären Begriff. http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/pst10_binas.htm#v19 (nachgeschlagen am 29.8.2013).

[9] Klassisch meint hier die Kirchenmusik des 16.-20. Jahrhunderts, die auch als ernste Musik bezeichnet wird. Sie soll hier nicht durch einen Kunstcharakter auffallen, sondern ebenso wie populäre oder volkstümliche Musik als erklingende Wirklichkeit analysiert werden.

[10] Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 7-43. Es werden nicht nur Fakten über den Ablauf des Gottesdienstes erzählt (dünne Beschreibung), sondern es werden (Be-)Deutungen für den Einzelnen erkennbar. Bedeutungen, die rationales und emotionales Erleben und Verstehen aufnehmen.

[11] Vgl. Anne Honer, Lebensweltliche Ethnographie: ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von Heimwerkern, Wiesbaden 1993, 25.

[12] Ebd, 25.

[13] Vgl. ebd., 29.

[14] Vgl. ebd., 30.

[15] Vgl. ebd., 32

[16] Vgl. dazu ausführlicher: Christian Lüders, Beobachten im Feld und Ethnographie, in: Uwe Flick, Ernst Kardorff, Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 20129, 384-401.

[17] Wenn man in einer fremden Kultur forscht, geht es darum, the native’s point of view zu erreichen. Wenn man in der eigenen Kultur und einem Bereich, den man sehr gut kennt, forscht, muss man sich den Blick des Fremden neu aneignen, um die Besonderheiten erkennen zu können.

[18] Vgl. Alan P. Merriam, The Anthropology of Music, Evanston 1964, 219-226.

[19] Vgl. Arthur Simon, Ethnomusikologie. Aspekte, Methoden und Ziele, Berlin 2008, 63f.

[20] Alan P. Merriam, The Anthropology of Music, Evanston 1964, 219-226.

[21] Arthur Simon, Ethnomusikologie. Aspekte, Methoden und Ziele, Berlin 2008, 63.

[22] Vgl. Peter Bubmann, Musik und Religion, in: ders., Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Leipzig 2009, 13-39, 16-28.

[23] Eindrucksvoll war diese Komponente bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006.

[24] Vgl. Alan P. Merriam, The Anthropology of Music, Evanston 1964, 229-258.

[25] Vgl. Susanne Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kultur.

[26] Vgl. Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, 587-633.

[27] Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt 2009, 55f.

[28] Vgl. Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009, 78.

Summen-Singen-Shouten, Kirchentag in HH
Summen-Singen-Shouten, Kirchentag in HH
Offenes Singen, Kirchentag in HH
Offenes Singen, Kirchentag in HH

2.1 Eigenes Erleben – Beobachtungsprotokoll

Ein erster Teil des Singens ist vorbei, dann kam ein langes Podiumsgespräch. Nun begann der zweite Teil des Singens. Strahlen brechen viele und Die güldne Sonne, am Ende dieser Beschreibung setze ich ein.

Frau F. lässt uns alle aufstehen und wir singen, es geht viel besser und die Gemeinschaft ist besser zu spüren, einige Strophen des Liedes [Die güldne Sonne, Anm. JK].

Das folgende Lied von Herr W. angeführt ist ein völliger Kontrast. Wieder eingeleitet durch die nördliche Lage und dem Bezug zu Schweden, schlagen wir auf: Der Lärm verebbt. Sehr langsam, also das Gegenteil von Die güldne Sonne, so sagt Herr W. Es muss langsam gesungen werden und klangvoll sein. Das Lied transportiert durch seine Musik diese Stimmung, deshalb soll nicht lange erklärt werden, sondern gesungen. Allerdings hat er nun schon sehr viel erklärt und hauptsächlich die Stimmung beeinflusst, indem er vorgegeben hat, wie wir dieses Lied erleben werden. Dann singen wir und um die Melodie zu probieren, auf die Tonsilbe du. Das zeigt (die erwünschte) Wirkung. Es wird ruhig und eine völlig neue Stimmung ist zu spüren. Kein Text, nur Klang, ein bisschen klagend, erst eine Quarte dann eine kleine Sexte. Nur die Quinte ‒ sie gelingt auch nicht allen um mich herum ‒ wirkt kraftvoller. Dann singen wir das Lied. Aus den zwei Strophen werden vier, weil wir mit einer du-Strophe beginnen und schließen. Erstaunlich, wie schnell Musik die Stimmung ändert ‒ erst fröhlich, aufgeputscht und laut, fünf Minuten später, ruhig, beruhigend und getragen.

Dann übernimmt wieder die Band. Es geht um einen sehr alten Text: Verleih uns Frieden. Er ist neu vertont von Matthias Nagel.

 

2.2 Videoanalyse mit Untersuchung des Sonischen

Hier soll zuerst die Bildebene beider Videos aufgenommen werden. Es geht um die Beobachtung der Singenden, die beschrieben werden.

Die Menschen sitzen sehr ruhig da. Die Rücken sind gekrümmt und die Hände liegen auf dem Schoß. Es ist ein gutes Bild für die sog. Kirchenhaltung.

Die Frau A in der Mitte der ersten Reihe singt aus einem Buch mit ihrem Nachbarn B (ihrem Mann?!). Der Mann holt einen Stift aus dem Rucksack und schreibt etwas in das Liedheft. In dieser Zeit hat die Frau keinen Text. Sie singt trotzdem gut mit, aber an den Mundbewegungen sieht man, dass sie nicht den Text singt. Auffällig ist, dass sie sich wiegend bewegt, wenn sie keinen Text singt und am Ende der zweiten Strophe herzhaft gähnt.

Neben den beiden sitzt eine Frau mit rötlichem Haar C. Sie singt sehr gut mit und sitzt im Vergleich zu den anderen recht aufrecht. In der Mitte der ersten Strophe holt sie etwas aus dem Rucksack, was das Singen behindert. Sie bewegt sich etwas und holt sich so Kraft fürs Singen aus dem Körper. Als nach der zweiten Strophe ange­sagt wird, dass nun noch eine Strophe auf du folgt, verzieht sie das Gesicht so in dem Sinne: na gut dann auf du. Bei dieser Strophe schaut sie gar nicht ins Heft. Doch ihr Blick wirkt nicht nach außen, sondern eher nach innen gerichtet. Der Klang scheint sie einzuschließen. Sie schließt fast die Augen und ein entspanntes Lächeln huscht über das Gesicht. Ganz am Ende schließt sie die Augen und lauscht kurz auf den Schlusston. Dabei lächelt sie etwas, so in dem Sinne: das passte jetzt gut.

Neben ihr sitzt ein Mann in roter Jacke D. Er singt nicht mit, aber seine Frau neben ihm ist sehr engagiert. Dieser Mann fällt auf, weil er bei zwei Liedern sehr aktiv den Rhythmus klatscht. Seine Frau singt auch ein bisschen in seine Richtung, dreht sich mal zu ihm, so als wolle sie ihn doch noch beteiligen. Bei diesem Lied dauert es einige Sekunden in der ersten Strophe, dann lehnt sich der Mann zurück. Die Hocker haben ja keine Lehne, aber er faltet die Hände um ein Knie und kann sich so entspannt zurücklehnen.

Noch eine letzte Gruppe soll betrachtet werden. Sie sitzt am rechten unteren Rand. Eine junge Frau mit Pferdeschwanz E, dahinter ein Mann mit kurzen Haaren F und dahinter M1=G mit einem grauen Bart. Sehr interessant ist zu beobachten, dass die Bewegungen und Körperhaltungen sehr ähnlich sind. Sie schauen während der Strophen ins Buch und bei der letzten Strophe nur wenig ins Buch. Die junge Frau gähnt bei den letzten Tönen auf du.

b) Offenes Singen: Für das Offene Singen gibt es kein Forschungstagebuch.

Das Video zeigt eine sehr ruhige Masse. Die Menschen sitzen still und konzentriert. Sie schauen in die Noten. Man kann nur einzelne sehen, die sich etwas bewegen, im ruhigen Takt wiegen. Doch sobald die Strophe, hier wurde ja erst auf du gesungen, vorbei ist, dann geht ein Aufatmen und eine Welle von Bewegung durch die Masse. Dies ist ähnlich am Ende des Liedes. Im Vergleich zu dem Lied Wenn Glaube bei uns einzieht kann man die Ruhe gut erkennen, denn hier sind kleine Bewegungen zu sehen, die insgesamt ein bewegtes Bild zeigen.

Auf dem Video ist in der ersten Reihe ein weißhaariger Herr mit Bart K zu sehen. Er singt sehr gut mit. Beim Lied sitzt er sehr ruhig, am Ende der ersten Strophe auf du und am Anfang der ersten Textstrophe sitzt er nach vorne gebeugt und stützt sich auf die Knie. Als dann der Quintsprung auf den Text Gott segne alle richtet er sich abrupt auf.

F4=I und ihre Nachbarin mit lockigem Haar H. Sie singen beide gut mit. Bei der Strophe auf du schauen sie viel in die Noten. Am Ende der Melodie wird der zweite Teil wiederholt. Da schauen sie sich direkt an, mit einem melancholisch schwermütigem Lächeln. Am Ende schauen sie sich wieder an und die Nachbarin sagt so etwas wie: schön, ne? Da schaut F4 schon recht bedeckt. Dann beginnt der Text. F4 ist sehr angegriffen, sie zwinkert mit den Augen und hört bei dem Text: Gott segne alle... mit dem Singen auf. Sie fasst sich an die Nase, reibt die Augen etwas. Ihre Nachbarin spürt dies und schaut kurz vor Ende der ersten Strophe zu ihr rüber. In der zweiten Strophe hat sie sich gefangen. Am Ende des Liedes lächelt sie zur Nachbarin hin, redet mit ihr, doch dann nimmt sie ein Taschentuch, wischt sich die Augen und die Nase.

 

Die Soundgeschichte soll hier nicht ausführlich abgedruckt werden, denn sie erscheint ja in der Erzählung typischer Teilnehmender.

Kategorie

Der Lärm verebbt

Lautstärke      Laut

 

Mittellaut

 

Eher leise

 

Leise

X

Klangeindruck       Weich

X sehr

Etwas weich

 

Eher hart

x Anfang Str.1 wegen Text

Hart

 

Tempo      Schnell

 

Mittelschnell

 

Eher langsam

 

Langsam

X

Klangbetont

X

Rhythmus-betont

 

Harmonik         Schlicht

X

Komplex

 

Modern

 

Populär

 

Melodie            Schlicht

 

Melodiebetont

X

Rhythmisch

 

Viele Sprünge

 

Rhythmus         Auffallend

 

Unauffällig

X

Arrangement

 

Instrumente          Orgel

X

Band

 

Pos-chor

 

A cappella

Letzte Str. du

Stil      Kirchen-Lied

Schwedisches Volkslied

Populäre Musik

 

Experimentelle Musik

 

Stimmklang         Rau

 

Weich

X

Hell

 

Dunkel

 

Legato

Einheitlich

Staccato

 

Fröhlich

 

Melancholisch

X

Kraftvoll

 

Körpererleben, -beobachten, Mimik           Ruhig

 

X

Bewegt

 

Gekrümmt

X

Aufrecht

 

Traurig

F1 & F4

Fröhlich

 

Offen

 

Verschlossen

X

Interviewaussagen z. Lied

Fröhlich

 

Traurig

 

Melancholisch

X

Belebend

 

Spannend

 

Langweilig

 

Spaß

 

Als Ergebnis dieser Geschichte kann man den besonderen Klang bei der Tonsilbe du erwähnen. Er wird als lichter Klang mit dunkler Silber er­lebt. Der Klang ist ruhig und etwas melancholisch. Die Worte der Stro­phe behindern den Klang, der am intensivsten und einheitlichsten bei der letzten Strophe a cappella auf du klingt. Die gespannte Atmosphäre wird in der fast atemlosen Stille nach dem letzten Ton bei SSS noch ein­mal greifbar. Beim OffSing geht ein Aufatmen durch die Singenden, was ähnlich auf die gespannte Atmosphä­re schließen lässt.

Bei SSS ist die Atmosphäre noch dichter als beim OffSing. Dort ist das Tempo schneller und die Einstellung ist eine andere. Beim SSS soll anhand verschiedener Begleitungen die Atmosphäre spürbar werden. Während es beim OffSing um die Freude am Singen geht und deshalb werden verschiedene Lieder schnell nacheinander gesungen.

 

Die nebenstehende Tabelle verallge­mei­nert die subjektive Sound­­ge­schichte, indem einzelne Parameter in ihrer Gewichtung aufgenommen wer­den. Der Fragebogen der sich an dem semantischen Differenzial und der Tabelle orientiert, ordnet das Lied in der Typ 1. Trophotrop. Zuerst ist dies das Ergebnis der subjektiven Perspektive von Jochen Kaiser. Doch dürften die Meisten dieser Ein­ord­nung zustimmen, was aufgrund des Konzepts der kleinen sozialen Lebens-Welten angenommen wird. Bei den Untertypen sind Mehrfach­ein­ordnungen möglich, hier: 1b: Trophotrop – ruhig und 1c: Trophotrop – weich.

F4 (auf dem Foto I) würde wahrscheinlich 1a: Trophotrop – traurig für dieses Lied benennen, denn im Video ist deutlich zu erkennen, dass sie traurig war.

Diese Verallgemeinerung des eigenen Erlebens stützt sich neben dem Beobachtungsprotokoll auf die Videobeobachtung, die bei SSS zeigte, dass alle eine ähnliche Körperhaltung hatten, dass sich der Mann D entspannt zurücklehnte und dass einige gähnten. Ebenso ist beim OffSing zu sehen, wie eine ruhige Masse dasitzt und am Ende ein Aufatmen durch die Menschen geht.

 

Fragebogen um einige Klangparameter anhand des semantischen Differenzials abzufragen:

Lied: Der Lärm verebbt und die Last wird leichter[1]

Es geht um das konkrete Erleben des Liedes heute, um das, was Sie gerade empfinden, nicht darum, welche Gefühle das Lied in seiner Musik ausdrückt.

bekannt

1

2

3

4

Unbekannt

allgemeine Frage, wenn das Lied bekannt ist, könnte früheres Singen Einfluss auf die Bewertung haben

angenehm

1

2

3

4

Unangenehm

Valenzdimension des semantischen Differenzials

Leise

1

2

3

4

Laut

Potenzdimension des semantischen Differenzials

Klein

1

2

3

4

Mächtig

Potenzdimension des semantischen Differenzials

Weich

1

2

3

4

Hart

Potenzdimension des semantischen Differenzials

Ruhig

1

2

3

4

Bewegt

Aktivierungsdimension des semantischen Differenzials

Traurig

1

2

3

4

Fröhlich

Aktivierungsdimension des semantischen Differenzials

Unzufrieden

1

2

3

4

Zufrieden

Valenzdimension des semantischen Differenzials

Nicht gefallen

1

2

3

4

gefallen

Valenzdimension des semantischen Differenzials

 

2.3 Interviews

Beide Sing-Veranstaltungen auf dem HH-Kirchentag ließen viele Lieder erklingen, sodass zu dem konkreten Lied Der Lärm verebbt nur wenige direkte Äußerungen vorliegen. Aber insgesamt wurde die Stimmung der Veranstaltungen beschrieben und dabei spielte dieses Lied eine wichtige Rolle.

F1 erzählt über SSS und nimmt dieses Lied als Beispiel für eine nachdenkliche Stimmung. Sie kann nur singen, wenn sie ein frohes Herz hat. Die Analyse mit der Dokumentarischen Methode zeigte, dass F1 die soziale Wirkung des Singens: Singen verbindet mit den Nachbarn, hat man äh die Gemeinschaft und ebenso die individuelle: Die Stimmung je nach Tonart, Tonart ist entscheidend [...] Dieses skandinavische Lied äh hat ne Molltonart gehabt, irgendwie kommt man da in eine nachdenkliche Stimmung rein. Das kleine Wörtchen man deutet zwei Dinge an, einmal will sie nicht zu deutlich ich sagen, aber zum anderen schwingt auch der Unterton mit, dass die anderen ähnlich fühlen. Im weiteren Verlauf wechselt F1 zum ich, weil sie sagt: ich kann in Trauer nicht singen.

F4 (im Bild oben I) gibt nach dem OffSing in großer Eile die Entwicklung ihrer Stimmung an: also a) ich bin ganz fröhlich geworden. In der Analyse zeigte sich diese Aussage als positiver Horizont. Singen verändert die Stimmung, besonders in einem gut angeleiteten Singen. Singen, so wird deutlich, ist für F4 eine wichtige Quelle um das Leben zu fühlen und zu bewältigen. Das Lied Der Lärm löst bei F4 Tränen aus und ist noch nicht zur fröhlichen Stimmung zu rechnen.

M1 (im Bild oben G) hat Angst vor dem Singen, aber wenn er sich dann getraut, dann ist da eine Gefühlspalette. Das geht von euphorisch bis Weinen, kommt alles vor. Singen befreit ihn unheimlich, es ist unheimlich schön.

 

2.4 Klassisch-hymnologie Liedanalyse

Der Lärm verebbt und die Last wird leichter,

es kommen Engel und tragen mit.

Gott, segne alle, die dir vertrauen

Gib Nacht und Ruhe, wo man heut litt.

 

Lass Recht aufblühen, wo Unrecht umgeht.

Mach die Gefangnen der Willkür frei.

Lass deine Kirche mit Jesus wachen

Und Menschen wirken, dass Friede sei.

 

Das Lied geht auf ein schwedisches Abendlied zurück, das Lars Thunberg 1973 dichtete. Die Melodie ist eine schwedische Volksweise. Die deutsche Fassung wurde von Jürgen Henkys (1986, 1990) aus dem schwedischen relativ ähnlich dem Original übertragen. An einigen Stellen hat Henkys – soweit ich dies anhand des schwedischen Textes beurteilen kann – den Text von Alltagsworten befreit. So folgt er der bewusst sehr modernen Sprache nicht immer. Beispielsweise heißt es im Original Stress, was Henkys mit Last übersetzt.[1] Nach meinem Eindruck verstärkt Henkys den allgemein religiösen Charakter in Richtung Christentum, wenn er beispielsweise in der zweiten Strophe übersetzt: Lass deine Kirche mit Jesus wachen erinnert er an Gethsemane, obwohl dies im schwedischen Text nicht vorkommt.

Die Poetik hat kein wirkliches Versmaß. Teilweise beginnen die Zeilen auftaktig, z.B. Der Lärm verebbt. Dann gibt es aber auch Zeilen, die mit zwei betonten Silben beginnen, z.B. Gott, segne oder Gib Nacht und Ruhe. Der Wechsel von betonten und unbetonten Silben wird in der Mitte jeder Zeile durch zwei leichte Silben unterbrochen. Am Ende der Zeilen ist ein Wechsel von unbetonten und betonten Endungen. Allerdings auch hier wieder nicht gleichbleibend, z.B. bei der Zeile Lass Recht aufblühen, wo Unrecht umgeht. Entgegen der üblichen Betonung wird hier das um- anstelle des -geht betont. Reime gibt es nur zwischen zweiter und vierter Zeile. So mutet die Poetik insgesamt recht modern an und hat m.E. keine ganz überzeugende Form. Jede Strophe besteht aus vier Zeilen, die folgende Silbenverteilung haben 10, 9, 10, 9.

Inhaltlich ist der Text relativ offen, indem er keine konkrete Situation benennt. Es geht um eine abendliche Situation, weil es am Ende der ersten Strophe um Nacht und Ruhe geht. Die einzelnen Zeilen lassen Bilder entstehen: Der Lärm verebbt – Ebbe und Flut sind Naturerfahrungen an Meeren. Dieses Bild, dass der Lärm sich langsam, wellenförmig zurückzieht, ist ansprechend. Lärm korrespondiert auch mit dem Wort Ruhe aus der letzten Zeile. Gleichzeitig ist dieser Anfang aber voraussetzungsreich, denn man muss ja das Gefühl von Lärm haben und dieser sollte auch ruhiger werden. Und diese Voraussetzungen durchziehen das ganze Lied. Last und leichter werdende Last, Gott und segne alle, die dir vertrauen, um dies mit einigen weiteren Zitaten zu belegen. Ist die erste Strophe eher auf Beruhigung – Lärm verebbt, Last wird leichter, Engel tragen mit, Nacht und Ruhe – aus, passiert in der zweiten Strophe das Gegenteil: statt verebben, aufblühen; statt Engel tragen, Gefangene frei; statt Nacht und Ruhe, mit Jesus wachen.

Die Melodie ist sehr melancholisch und passt eigentlich eher zur ersten Strophe. In g-Moll erklingt sehr stark die Spannung zwischen fis als Leitton und der Terz b. Das macht den Reiz dieser Melodie aus. Die Melodie beginnt mit einem Quartsprung und weitet sich dann immer mehr aus, über das g‘ zum b‘ (Sexte) und schließlich zum d‘‘ (Oktave), danach dreht sich die Melodie und über b‘ geht es zurück zum Grundton g‘. Die Töne b‘ und d‘‘ werden jeweils zweimal, sowohl beim Auf- als auch beim Abgang, erreicht. Damit ist in der Mitte der Strophe musikalisch der Höhepunkt. Dieser Tonumfang von einer Oktave – von der Unterquarte der Tonart bis zur Oberquinte – erinnert an die Lieder des Genfer Psalters. Insgesamt wirkt die Melodie kreisend und hat darin ihre suggestive (magische) Wirkung. Die Melodie steht im 3/4-Takt und hat, was eine Besonderheit ist, in jeder Zeile drei Achtelnoten als Auftakt. Die Eins in jedem Takt ist eine klanglich betonte Viertelnote, weil es ansonsten nur Achtelnoten gibt. Die Melodie ist also sehr regelmäßig gebaut.

Text und Melodie sind nicht ganz aufeinander abgestimmt, weil die Melodie so regelmäßig ist, während der Text kein durchgehendes Metrum hat. Die unterschiedliche Silbenzahl in den Zeilen wird rhythmisch durch zwei Achtelnoten ausgeglichen, ebenso die beiden unbetonten Silben in der Mitte jeder Zeile. Die zweite Strophe ist, wie oben schon bemerkt, ein relativer Kontrast zur ersten und passt deshalb nicht so gut zur Melodie.

Das Lied ist im Schwedischen wohl ein allgemein religiöses und deshalb gibt es nicht viele Bezüge zur Bibel. Doch in der Übertragung hat Henkys einige Bezüge hergestellt. So kann man bei den Engeln den Psalm 91 durchklingen hören und bei der Kirche, die mit Jesus wachen soll, wird an Gethsemane erinnert.

Insgesamt ist dieses Lied in der Verbindung von Wort und Ton sehr einnehmend. Es produziert eine bestimmte, ruhig-melancholische Atmosphäre. Eindeutig wird das Lied von der Melodie dominiert. Der Text trägt einige Stichworte bei, die die Atmosphäre unterstützen, z.B. Lärm verebbt ..., Last leichter ..., Engel ..., Gott, segne alle ..., Nacht und Ruhe, wo man heut litt. Aufblühen ..., frei ..., Jesus ..., Friede sei. Wenn man den Text nicht nur als freie Poesie wertet, die in der Rezeption so ergänzt wird, dass der Text für mich Bedeutung entwickeln kann, dann entstehen schon einige Anfragen. Warum kommen erst wenn der Lärm verebbt Engel und tragen mit? Warum soll Gott nur die Menschen segnen, die ihm vertrauen. Ebenso ist theologisch schwierig, dass Gott mit vielen Imperativen, z.B., gib, lass, mach ..., angesprochen wird. Gerade diese vielen Imperative, am Zeilenanfang stehen sie auf einer absolut unbetonten Zählzeit und kontrastieren den ruhig-melancholischen Charakter der Melodie.

 

 

2.5 Erzählung typischer Teilnehmender

Die folgende Legende erleichtert die Einordnung der Erzählung in die verschiedenen Quellen, die genutzt wurden.

 

Gerade Schrift = SSS; kursive Schrift = OffSing

Forschungstagebuch

Videobeschreibung

Sound(-geschichte), Interviews und Gespräche,

Klassische Liedanalyse

 

Einleitung

Nach einem ersten Teil des Singens und einer Podiumsdiskussion, in der viele die Halle verließen. Kam der zweite Teil des Singens. Den Anfang machte Strahlen brechen viele, dann folgte Die güldne Sonne. Hier sangen wir sehr schnell, fröhlich und sogar im Stehen. Dieses Lied machte gute Laune und war Ausdruck von Begeisterung. Hier zeigte sich auch, dass viele Chorsänger/innen da waren, denn wir sangen mühelos vierstimmig.

Das folgende Lied, um dieses geht es hier, war Der Lärm verebbt. Herr W. führte das Lied als Kontrast zu Die güldne Sonne ein. Der Kontrast sollte sich in der Lautstärke aber besonders im Tempo zeigen. Für Herr W. war ein wesentlicher Aspekt dieses Liedes, dass es einen norddeutschen Tonfall hat. Der Ursprungstext ist schwedisch und die Melodie ist eine schwedische Volksweise. Man kann in der Musik bestimmte Landstriche, Herr W. meinte wohl die Stimmungen der Landstriche erkennen. Dieses Lied ist typisch für den Norden und den Ostseeraum. Im Gesangbuch steht über dem Lied, dass es langsam gesungen werden muss, ansonsten verliert es sehr viel von seinem Charakter.

 

Das Singen

Um das Lied zu lernen, singen wir auf du eine Strophe. Auch beim OffSing wird eine Strophe auf ‚du‘ gesungen. H und I singen gut mit. Am Ende dieser Strophe schauen sie sich beide melancholisch, schwermütig lächelnd an, weil diese Melodie diese Stimmung ausdrückt. Die Ankündigung des Liedes und das Singen auf du zeigen sofort die (erwünschte) Wirkung. Es wird ruhig und eine völlig andere Stimmung als bei Die güldne Sonne breitet sich aus. Als wir zu singen beginnen, klingt es dunkel und ruhig, eine melancholische Stimmung verbreitet sich, obwohl wir an einigen Stellen nach den richtigen Tönen suchen.Am Ende der ersten Strophe vereinheitlicht sich der Klang. Ich habe das Gefühl, dass die Stimmen miteinander verschmelzen. Obwohl die dunkle und geschlossene Silbe du erklingt, wirkt es doch positiv und hoffnungsvoll auf mich. Die Dunkelheit wird durch einen lichten Schimmer verwandelt und wirkt angenehm, eine leuchtende Dunkelheit.

Nach dem Stehen und der Bewegung bei der güldnen Sonne sitzen die Menschen jetzt sehr ruhig da. An den gekrümmten Rücken und den Händen, die auf dem Schoß, ist die Kirchenhaltung zu erkennen. Zwar klingen noch einige Töne unsicher, besonders der Quintsprung in der Mitte, aber der Klang wird ruhig und klagend, was durch den Anfang, erst Quart- und dann kleiner Sextsprung hervorgerufen wird.

Die Melodie ist sehr melancholisch und passt eigentlich eher zur ersten Strophe. In g-Moll erklingt sehr stark die Spannung zwischen fis als Leitton und der Terz b. Das macht den Reiz dieser Melodie aus. Die Melodie beginnt mit einem Quartsprung und weitet sich dann immer mehr aus, über das g‘ zum b‘ und schließlich zum d‘‘, danach dreht sich die Melodie und über b‘ geht es zurück zum Grundton g‘. Die Töne b‘ und d‘‘ werden jeweils zweimal, sowohl beim Auf- als auch beim Abgang, erreicht. Damit ist in der Mitte der Strophe musikalisch der Höhepunkt. Insgesamt wirkt die Melodie kreisend und hat darin ihre suggestive (magische) Wirkung.

D, der nicht mitsingt, lehnt sich entspannt zurück.

Als der Text hinzukommt, verliert das Lied etwas von seinem Flair, weil wir mit dem Text beschäftigt sind und der Klang vernachlässigt wird. Besonders der Anfang der ersten Strophe klingt recht hart und ist ein Kontrast zum du. Ich suche nach dem feinen Klang, jenseits der Worte und ihrer Bedeutung. Die Worte behindern das ruhige Fließen der Melodie.

I ist von der ersten Strophe sehr berührt, sie zwinkert mit den Augen und beim Text ‚Gott segne alle ...‘ muss sie aus Rührung aufhören zu singen. Sie fasst sich an die Nase und reibt die Augen. H bemerkt dies und schaut zu I.

K sitzt vorgebeugt und hat die Ellenbogen auf den Knien, als die erste Strophe beginnt. Bei der Textstelle: ‚Gott segne alle‘, die mit einem Quintsprung beginnt, richtet er sich abrupt auf, so als brauche er für diesen hohen Ton viel Kraft.

Wir kennen die Melodie inzwischen besser und einige Worte unterstützen mein Gefühl, z.B. leichter, Vertrauen, Nacht, Ruhe, aufblühen. Die zweite Strophe wirkt klanglich viel ausgeglichener als die erste. Wir haben uns auf den Text eingestellt. Er fällt mir beim Singen nicht wirklich auf, auch wenn er mich etwas stört.

Später finde ich, dass der Text der zweiten Strophe teilweise konträr der ersten ist. Ist die erste Strophe eher auf Beruhigung – Lärm verebbt, Last wird leichter, Engel tragen mit, Nacht und Ruhe – aus, passiert in der zweiten Strophe das Gegenteil: statt verebben, aufblühen; statt Engel tragen, Gefangene frei; statt Nacht und Ruhe, mit Jesus wachen.

A singt aus einem Buch mit ihrem Nachbarn B. Als B einen Stift aus dem Rucksack holt und etwas ins Buch schreibt singt A ohne Buch und trotzdem gut mit, aber an den Mundbewegungen sieht man, dass sie nicht den Text singt. Auffällig ist, dass sie sich wiegend bewegt, wenn sie keinen Text singt und am Ende der zweiten Strophe herzhaft gähnt.

I hat sich in der zweiten Strophe wieder gefangen und singt gut mit.

Das ruhige Singen, der ausgeglichene Klang wirkt in der zweiten Strophe stärker, der Text verschwimmt, und bleibt beim Singen nicht in meinem Verstehen haften.

Die Poetik hat kein wirkliches Versmaß. Teilweise beginnen die Zeilen auftaktig, z.B. Der Lärm verebbt. Dann gibt es aber auch Zeilen, die mit zwei betonten Silben beginnen, z.B. Gott, segne oder Gib Nacht und Ruhe. Der Wechsel von betonten und unbetonten Silben wird in der Mitte jeder Zeile durch zwei leichte Silben unterbrochen. Am Ende der Zeilen ist ein Wechsel von unbetonten und betonten Endungen. Allerdings auch hier wieder nicht gleichbleibend, z.B. bei der Zeile Lass Recht aufblühen, wo Unrecht umgeht. Entgegen der üblichen Betonung wird hier das um- anstelle des -geht betont. Reime gibt es nur zwischen zweiter und vierter Zeile. So mutet die Poetik insgesamt recht modern an und hat m.E. keine ganz überzeugende Form.

Text und Melodie sind nicht ganz aufeinander abgestimmt, weil die Melodie so regelmäßig ist, während der Text kein durchgehendes Metrum hat. Die unterschiedliche Silbenzahl in den Zeilen wird rhythmisch durch zwei Achtelnoten ausgeglichen, ebenso die beiden unbetonten Silben in der Mitte jeder Zeile. Die zweite Strophe ist, wie oben schon bemerkt, ein relativer Kontrast zur ersten und passt nicht so gut zur Melodie.

Doch als letzte Strophe erklingt noch einmal das du, diesmal a cappella. Hier bin ich erfüllt von der Musik und dem Klang. Ich bin am intensivsten beteiligt. Der Klang ist ruhig, ausgeglichen, klagend und doch zuversichtlich. Der lichte Klang dieser dunklen Silbe fasziniert mich. Die Stimmen klingen wie eine Stimme, wir sind ein Klanggefüge, ruhig, etwas melancholisch, sehnsüchtig und weich klingen unsere Stimmen zusammen. Im Verschmelzen der Stimmen gelingt ein faszinierendes Gemeinschaftserlebnis, das berichten F1 und M1. Die Gemeinschaft wird durch die große Menge an Menschen hervorgerufen, sie zeigt sich in der gleichmäßigen Sitzhaltung, die höchstens ein leichtes Wiegen im Takt zulässt. F1 beschreibt aber auch die nachdenkliche Stimmung, die dieses Lied bei ihr hervorgerufen hat. F4 (=I im Bild) war von dem Lied sehr gerührt und dieses Lied war der Ausgangspunkt, der sie am Ende fröhlich stimmte. Am Ende des Liedes sieht man sehr deutlich, wie ein Aufatmen durch die Gruppe geht. Ein ähnliches Aufatmen ist bei M1 (=G im Bild) zu beobachten. M1 sagt, dass er beim Singen eine Gefühlspalette von Weinen bis euphorisch erlebt. Der letzte Ton klingt nach, es wirkt fast wie Nachhall und kurzzeitig ist der Raum vergessen, fast atemlos lausche ich dem Klang hinterher. C sitzt etwas aufrechter als die anderen und schließt bei der letzen Strophe fast die Augen, als lausche sie auf den Klang. Ihr Lächeln am Ende wirkt so, als ob sie denkt: das passte jetzt gut. Wunderbar, wie die Stimmung sich verändert hat, von fröhlich, laut und aufgeregt in ruhig, ausgeglichen und zart. Das ist auch bei E, F, G zu sehen, die alle drei in ähnlicher Körperhaltung da sitzen. E gähnt am Ende des Liedes. Beim OffSing ist das ‚Absingen‘ von Liedern sehr präsent, sodass hier die Stimmung des Liedes sich nicht so durchsetzt. Auch das Singtempo ist deutlich schneller als bei SSS. Kaum ist der letzte Ton eines Liedes verklungen, rufen einige schon ihren nächsten Musikwunsch nach vorne.

Insgesamt ist dieses Lied in der Verbindung von Wort und Ton sehr einnehmend. Es produziert eine bestimmte, ruhig-melancholische Atmosphäre. Eindeutig wird das Lied von der Melodie dominiert. Der Text trägt einige Stichworte bei, die die Atmosphäre unterstützen, z.B. in der ersten Strophe: Lärm verebbt ..., Last leichter ..., Engel ..., Gott, segne alle ..., Nacht und Ruhe, wo man heut litt. Und in der zweiten: aufblühen ..., frei ..., Jesus ..., Friede sei.

Dann folgt als nächstes Lied eine moderne Vertonung von Verleih uns Frieden, die Matthias Nagel komponiert hat. Die Band spielt und wieder wechselt die Stimmung.

 

 

3. Ergebnisse anhand einer ethnomusikologische Funktionsanalyse

Nachdem nun die Erzählung typischer Teilnehmer eine Form der Ergebnisse zeigte, folgt hier mit der Ethnomusikologischen Funktionsanalyse eine zweite Form, die systematisch den Kontext und die Funktion der erklingenden Liedes aufnimmt.

 

3.1 Die soziale Funktion

SSS und OffSing wollten ein Gemeinschaftserlebnis ermöglichen. In den Interviews nach den Veranstaltungen war dies ein wichtiges Thema. So wurde z.B. von F1 als Erstes gesagt, dass man die Gemeinschaft gespürt hat. Ebenso äußert sich M1. Er wird durch das Singen in die Gemeinschaft integriert, fühlt sich zugehörig.

Wenn man nach der Art des Gemeinschaftserlebnisses fragt, hilft die Videobeobachtung. Dann fällt die gleichförmige Sitzhaltung auf. Es wird daran deutlich, dass die Stimmung und das Fühlen der Menschen relativ ähnlich ist. Auch, dass mehrere während dieses Liedes gähnen, ist ein Indiz dafür, dass eine stimmungsmäßige Gemeinschaft entstanden ist. Die soziale Normierung war hier sehr gering, weil es Singveranstaltungen waren, die Singenden sich also bewusst entschieden hatten, am Singen teilzunehmen. Zusätzlich war es möglich und einige nutzten es auch, jederzeit das Singen zu verlassen.

 

3.2. Die psychische Funktion

Drei Punkte aus den Interviews und eine Videobeobachtung können benannt werden.

Einmal hat F1 sich im Gespräch zu diesem Lied geäußert. Sie empfand es als melancholisch und man kommt so ins Nachdenken hinein. Es entspann sich ein Gespräch darüber, wann man singen kann. F1 kann nicht singen, wenn sie ganz traurig ist, weil Singen das Herz weitet. Sie spürt also bei diesem Lied die Stimmung. Ihre Stimmung wird auch beeinflusst, aber es ist nicht ganz klar, wie das Lied genau aktuell wirkte. Denn sie nimmt eher eine Zuschreibung für dieses Lied vor und spricht nicht über ihre aktuelle Stimmung.

F4 kommt nach dem OffSing zu mir und sagt, dass sie ganz fröhlich geworden ist. Ausgangspunkt, so das Video, ist das Lied Der Lärm. Hier ist F4 sehr angegriffen, wischt sich die Augen, hört auf zu singen und einige Tränen sind zu beobachten. Das Lied löst die Tränen aus, aber es hilft auch zur Beruhigung. Sie sagt im Nachgespräch, dass das Singen befreit, sie kenne aber auch die Situation, dass die Kehle zugeschnürt wird.

M1 hat nicht direkt zu diesem Lied geäußert. Er sagte, dass beim Singen eine Gefühlspalette von euphorisch bis Weinen, alles kommt vor. Das Video zeigt, dass er sehr ruhig und in sich gekehrt ist. Das Gesicht ist nicht fröhlich, sondern sehr ernst und er sitzt sehr ruhig, reibt sich die Nase nach dem Singen und man sieht, wie er dann körperlich aufatmet. Im Unterschied dazu wiegt er sich beim Kehrvers des Liedes Die Wüste vor Augen hin und her und bei Vorbei sind die Tränen lächelt er und bewegt sich fröhlich im Rhythmus.

Im Video ist C zu sehen, die besonders bei der letzten Strophe auf du ganz in sich gekehrt lauschend singt. Sie lächelt am Ende und wirkt sehr ausgeglichen.

 

3.3 Die ästhetische Funktion

Bei der Beobachtung der Singenden auf dem Video wird deutlich, dass das Lied sehr ansprechend ist. Das Singen nimmt die Singenden ein und lässt sie die Klänge genießen. Das Beobachtungsprotokoll ist ein Beleg dafür, denn gerade die letzte Strophe füllt den Singenden aus. Ähnliches ist bei der Frau A, die sich im Rhythmus wiegt und bei Frau C zu beobachten, die sich besonders in der letzten Strophe mit du dem Gesang hingibt.

Aus dem Beobachtungsprotokoll kann noch aufgenommen werden, dass in der Halle der Umschwung der Stimmung sehr eindrücklich zu spüren war.

 

3.4 Die kommunikative Funktion

Da viele zusammen gesungen haben, ein Text erklang und Vor- und Nachsingen (individuell) genutzt werden konnten, war das Singen diese Liedes eine kommunikative Handlung. Das Lied wurde eingeführt und dann ebenso als beruhigende Musik erlebt. Das Lied war durch den Klang, die Melodie und einzelne Worte ein präsentatives Symbol für Beruhigung.

 

3.5 Die emotionale Funktion

Einige Aspekte der emotionalen Nutzung sollen stichpunktartig benannt werden: sich beruhigende Körperbewegung und –haltung (insgesamt); körperliche Entspannung (D); Gähnen (A, E); Ergriffensein und Tränen (I) und nachdenkliche Stimmung (F1).

 

3.6 Die religiös-transzendierende Funktion

Es wurden in zwei religiösen Veranstaltungen christlich-religiöse Lieder gesungen. Sie wurden zwar nicht besonders inhaltlich eingeleitet aber doch wurde die Aufmerksamkeit auf die religiösen Botschaften gelenkt. Aus diesem Grund wird angenommen, dass das Erleben zwar musikalisch-ästhetisch war, aber doch auch religiöse verstanden wurde.

a) Die magisch-wirksame Dimension

Die Melodie dieses Liedes hat eine kreisende Bewegungen, in der Spannung zwischen fis und b. Ebenso wiederholt sie immer den Rhythmus von drei Auftaktachteln und einer Viertel. Auch der Text mit den Engeln, der Entlastung, der Befreiung die aufblüht, trägt dazu bei, dass eine Wirkung eintritt. Sehr eindrucksvoll war der Stimmungsumschwung bei SSS. Von der fröhlich-aktiven Atmosphäre beim vorherigen Lied Die güldne Sonne, war der Wandel in ruhig und melancholisch nach einer Strophe auf die Tonsilbe du vollzogen. Auffällig war dieser Wandel auch deshalb, weil es Vormittag war und Der Lärm ein Abendlied ist. Diese beruhigende Wirkung ist im Video insgesamt und auch an Einzelnen, z.B. C zu beobachten.

b) Die ekstatisch-mystische Dimension

Der Lärm verebbt ist in seiner Melodie, wie oben schon beschrieben, kreisend, melancholisch gespannt und wiederholt den gleichen Rhythmus. Wenn dieses Lied mit mehreren Strophen, z.B. in HH mit zwei Strophen auf du gesungen wird, dann kann es andere, mystisch-meditative Sphären öffnen, wie z.B. bei C im Video beobachtet werden kann.

c) Die integrierend-kommunikative Dimension

Diese Dimension war in Hamburg stark zu spüren. Der Kontrast zu Die güldne Sonne, der Text, der nur im Hintergrund war, das lichte, dunkle du, die Ruhe, das langsame Tempo und die melancholische Stimmung integrierten uns alle zu einer emotionalen Gemeinschaft. Dies wurde an der letzten Strophe intersubjektiv erkennbar, denn sie war klanglich sehr schön und überraschend einheitlich, für 1800 Singende, die sich nicht kannten.

d) Die seelsorgerlich-therapeutische Dimension

F4 wird durch das ganze OffSing seelsorgerlich-therapeutisch zu einer inneren Ausgeglichenheit und Freude geführt. Das hat sie im Nachgespräch gesagt und das kann man im Video beobachten.

M1 wird bei jedem Singen an seine Kindheit und die negative Erfahrung mit dem Singen erinnert. Er muss bei jedem Singen diese negative Erfahrung überwinden, doch dann fühlt sich seine Seele wohl und unheimlich frei.

Auch die Ausgeglichenheit von C, die im Video zu beobachten ist, lässt das Wohltuende dieses Singens ahnen.

e) Die rhetorisch-symbolische Dimension

Diese Dimension ist beim Singen von Der Lärm verebbt recht im Hintergrund, obwohl der Text ja einige interessante Anhaltspunkte liefern könnte, die atmosphärisch Wirken. Besonders die zweite Strophe mit den vielen Imperativen klingt im Singen anders als der Text vermuten ließe. Aber wie oben schon erwähnt ist die symbolische Botschaft als Beruhigung und vielleicht auch als Schutzerwartung an Gott erlebbar.

f) Die ethische Dimension  

Besonders die zweite Strophe hat einen starken moralischen Anspruch. Sie spricht im Imperativ: Lass Recht aufblühen ... Mach die Gefangnen der Willkür frei. Lass deine Kirche mit Jesus wachen und Menschen wirken, dass Friede sei. Diese Aufforderungen können in einen Handlungsimpuls münden. So sehr die erste Strophe passiv und ruhig klingt, ist die zweite Strophe doch sehr aktiv. Das Erleben beim Singen überdeckte allerdings den Handlungsimpuls.

 

 

Abschluss

Das Ergebnis ist keine allgemeingültige Analyse des Liedes und seines Singens, sondern ist beschränkt auf die konkreten Aufführungen beim Hamburger Kirchentag 2013, die dort beobachtet wurden.

Das Konzept der kleinen sozialen Lebens-Welt und die ethnomusikologische Funktionsanalyse erweiterten die singuläre Perspektive auf ein gesungenes Lied um einen kulturellen Blick, der ähnliches Erleben unter verschiedenen Singenden und in verschiedenen Gottesdiensten[2] wahrscheinlich macht.

Der weitere Forschungsweg muss nun weitere Lieder in ähnlicher Weise betrachten und vergleichend analysieren. So kann die Hypothese die sich hinter dem Konzept der kleinen sozialen Lebens-Welten verbirgt – in einem überschaubaren Abschnitt einer Kultur herrscht nicht unübersichtliche Pluralität, sondern die Welt wird ähnlich erfahren, Standpunkte sind vertauschbar, die Relevanzsysteme sind kongruent und alle können an dem kulturellen Geschehen partizipieren – geprüft werden. Es werden dann Muster des Singen und seines Erlebens im Gottesdienst deutlich.

Zwei Fragen können dadurch geklärt werden. Die erste, theologisch formuliert: Was trägt das kirchliche Singen zur Konstruktion der Wirklichkeit des christlichen Glaubens bei? Und die zweite musikwissenschaftlich formuliert: Welche musikalischen Konstruktionen von Wirklichkeit geschehen im religiösen Kontext?



[1] Vgl. Werkbuch zum Evangelischen Gesangbuch, Hg. Im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland von Wolfgang Fischer, Dorothea Monninger und Rolf Schweizer, Lieferung VI: Lieder aus anderen Ländern und Sprachen, Göttingen 2000, 39.

[2] Das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu geht davon aus, dass Menschen in unterschiedlichen Gottesdiensten (Bourdieu bezog dies natürlich nicht auf Gottesdienste) einen ähnlichen Habitus erwerben und sich so nonverbal verständigen können.

 


[1] Die vorliegende Ausfüllung stammt vom Erleben Jochen Kaisers. In Zukunft soll dieser Fragebogen bei Gottesdiensten und kirchlichem Singen verteilt werden, um so mehr Menschen einzubeziehen und Vergleiche anstellen zu können.